Kröte des Monats Dezember 2019
Tyrolia 2019. € 16,95.
Linda Wolfsgruber/Reinhard Ehgartner: Sternenbote. Eine Weihnachtsgeschichte
Am Anfang war die Himmelsscheibe von Nebra: eine rund 4000 Jahre alte kreisförmige Bronzeplatte mit Gold-Applikationen, der älteste (bisher entdeckte) Versuch von Menschen, den Himmel konkret darzustellen. Auf ihr abgebildet sind sowohl astronomische Phänomene als auch religiöse Symbole. Dieser archäologische Fund, mittlerweile im Bestand des Landesmuseums für Vorgeschichte Sachsen-Anhalt in Halle, inspirierte Reinhard Ehgartner den unterschiedlichen Dimensionen der Sterne, vom astronomischen Zugang zu ihrer spirituellen Bedeutung, in einem erzählenden Text nachzugehen. Was am Cover als Weihnachtsgeschichte ausgewiesen wird, liest sich zunächst wie ein Buch über Astronomie: Die kindliche Erzählinstanz, deren Alter und Geschlecht offen bleiben und so beim (Vor-)lesen unterschiedlich besetzt werden können, philosophiert über die Sterne und ihre besonderen Eigenschaften.
In ihren Bildern greift Linda Wolfsgruber die kreisrunde Fläche der Himmelsscheibe von Nebra auf, interpretiert sie jedoch visuell als jenen wissbegierigen Blick durchs Teleskop, der die genauere Sicht auf die Sterne erst ermöglicht. Als besonderen Kunstgriff, so berichtete sie sowohl bei der Buchpräsentation als auch in einem Interview in der aktuellen Nummer von >>>1001 Buch, arbeitete sie mit einem ungewöhnlichen „Rohstoff“, nämlich Körperpuder: Dieses wird auf ein Plexiglas gestreut, das zuvor mit Ölfarbe in unterschiedlichen Blautönen bestrichen wurde. Darauf wird weißes Papier gelegt und anschließend in einer Presse bedruckt. Durch die fettabweisende Wirkung des Körperpuders entstehen Himmelsbilder in faszinierenden Blauschattierungen mit unterschiedlich großen Sternen – aber auch eine Darstellung eines Backblechs voller frisch ausgestochener (Sternen-)Kekse, auf dem noch das Mehl des Teig-Ausrollens zu sehen ist. Die höchst sparsam eingesetzten figuralen Darstellungen hingegen sind mit Silhouettendruck gearbeitet. Ihre besondere Wirkung erhalten die Illustrationen nicht zuletzt durch das hochwertige tiefschwarze Papier, auf das sie gesetzt sind.
In einer fast lyrisch verknappten Sprache, dazu passend durchgängig in weißer Schrift gesetzt, kommt nach den ersten, stets im gleichen Kompositionsprinzip gestalteten, Doppelseiten außer der naturwissenschaftlichen Faszination für die Sterne ein weiterer Aspekt hinzu: Denn Oma erzählt die Geschichte von den Sterndeutern aus dem Orient. Im Dialog mit dem erzählenden Ich, aber auch anderen Familienmitgliedern, wird ausgelotet, was alles zu Weihnachten gehört: Das Warten. Die Sehnsucht. Aber auch ganz konkret die prekäre und ganz und gar nicht idyllische Situation jener Familie, deren Kind damals in Bethlehem auf die Welt gekommen ist. Die einzelnen Figuren sind dabei nicht im Sinne einer Psychologisierung ausdifferenziert, sondern stehen vielmehr als eine Art Chiffre für unterschiedliche Möglichkeiten, die Welt zu betrachten, die wiederum ihrer bildlich ganz reduzierten Darstellung in Form von Silhouetten entspricht. Diese werden in ein Gespräch unterschiedlicher Perspektiven gebracht:
Am Anfang war der Urknall, sagt Papa.
Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde, liest Oma.
Am Anfang war die Sehnsucht, meint Mama.
Das steht in den Sternen,
sagt meine Schwester und lacht.
Ohne sich in Weihnachtskitsch zu verlieren, werden verschiedene familiäre, aber auch kirchliche Traditionen rund um Advent und Weihnachten beschrieben, ohne dabei zu werten. Die aufgeregte Vorfreude auf jenes längliche Packerl, in dem sich (vielleicht!) das ersehnte Teleskop befindet, hat genauso ihren Platz wie der gemeinsame Besuch der Mitternachtsmette, in dem sich in der Symbolik der Lichter noch einmal die christliche Bedeutung von Weihnachten verdichtet:
Viele kleine Lichter zeigen, dass ein großes Licht in die Welt kam.
Ein Bilderbuchkunstwerk, sprachlich und illustratorisch auf höchstem Niveau. Aber auch ein Buch, das ganz undogmatisch die religiöse und spirituelle Dimension von Weihnachten auslotet, ohne dabei fertige Antworten vorzugeben. Und nicht zuletzt ein >>>MINT-Buch, das zu einer Auseinandersetzung mit einem naturwissenschaftlichen Thema anregt. In diesem Sinne wäre und ist das Buch aus Sicht der STUBE an unterschiedlichen digitalen und analogen Orten von Buchempfehlungen für Menschen unterschiedlichster Altersgruppen passend platziert. Doch kein Platz wäre passender als jener der letzten Kröte des Monats im Jahr 2019, verbunden mit dem Wunsch, dass sich zu Weihnachten alle Sehnsüchte, ob beruflicher oder persönlicher Natur, auf jene hier so eindrücklich formulierte Botschaft hin fokussieren:
Wenn einem ein Stern ganz besonders leuchtet, soll man ihm folgen.
Kathrin Wexberg
In der aktuellen Herbstproduktion sind außer „Sternenbote“ zahlreiche Bücher erschienen, die Weihnachten beziehungsweise das Warten darauf auf ungewöhnliche Art in den Blick nehmen. Marina Gennari, STUBE-Praktikantin im Oktober, hat aus dieser Fülle eine >>> Buchliste zum Thema Weihnachten zusammengestellt, vom STUBE-Team ergänzt um ausgewählte Long-Time-Favourites.
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