Kröte des Monats Oktober und November 2019
Ill. v. Aleksandra Mizielińska und Daniel Mizieliński.
Aus dem Poln. v. Thomas Weiler. Moritz 2019. € 25,00.
Michał Libera und Michał Mendyk: Wie das klingt! Neue Töne aus aller Welt
Knistern, Rascheln, Gluck, Schluck, Blätter rascheln, vor, zurück, vor, zurück, Kichern, Rascheln, zurück, Aha, Schluck, Rascheln, Rascheln, Ahaaa, Klick, Klick, Tak tak tak tak, Klick, Kreischen, Quietschen, Pfeifen, Rattern, Klick, Rascheln, Lachen, Luftholen, Rascheln, Knistern, Rascheln, Flapp – Buch zu. So (oder so ähnlich) klang wohl die Tonspur meiner Lektüre jenes Sachbuchs, in dem der polnische Musikdramaturg und -kurator Michał Libera gemeinsam mit dem Musikjournalisten Michał Mendyk nicht nur „Töne aus aller Welt“ – wie der Untertitel ankündigt –, sondern auch aus allen möglichen (wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen) Klangkörpern versammelt.
Wie wir über Musik, Klänge und das Hören nachdenken, möchte das grelle quadratische Büchlein dabei auf spielerische Weise (trans-)formieren. So deklariert es gleich zu Beginn mutig-provokant: „Es gibt keinerlei Unterschied zwischen der Stimme von Lady Gaga, dem Getuckere eines Traktormotors und den ‚künstlichen‘ elektronischen Geräuschen von Computern oder anderen Klangmaschinen.“ Dass es diesen Unterschied natürlich sehr wohl gibt, all dies aber Schwingungen der uns umgebenden Materie sind, fächert das Buch auf gut 200 Seiten auf ungemein informative, unterhaltsame und abwechslungsreiche Weise auf. Und macht dabei ein schier endloses Spektrum an lauten und leisen Tönen, informativen Details und spannenden Musiker*innen (leider ist das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Künstler*innen jedoch etwas unausgewogen), ausgefallenen Techniken und einzigartigen Kompositionen auf, das wohl die Neugierde eines/einer jeden Betrachter*in weckt.
„Musiker sind Hinhörer“
Zunächst einmal müssen aber auch hier die Grundregeln geklärt und erläutert werden, wie Geräusche (=Schall) als schwingende Moleküle ihre (für uns unsichtbare) Vibrationen (=Schallwellen) an ihre molekularen Nachbarn weitergeben: vom Geräuschproduzent über die Luft bis zum menschlichen (oder tierischen bzw. maschinellen) Ohr. Über die ebenfalls schwingenden Stationen Ohrmuschel – Trommelfell – Hammer – Amboss – Steigbügel gelangen die Informationen schließlich in unser Gehirn, wo sie in „Höreindrücke“ umgewandelt werden. Wir haben also etwas gehört – und können das Geräusch in den meisten Fällen sogar identifizieren und verorten. Basierend auf dieser gleich anfangs vorausgeschickten Grundlage erklären die Autoren nicht nur Geräuschphänomene aus der Natur – wie das Echo und die vermeintlich blinde, mit ihren Ohren sehende Fledermaus –, sondern legen neben den durchaus wandelbaren Spielregeln der Musik (inklusive Obertöne, Mikrotöne und Halbtonschritte) zum Beispiel auch offen, wie seismografische Sensoren funktionieren und wie gefälschte Tonaufnahmen produziert werden.
„Alles ist Musik“
Im Zentrum des Buches steht dabei stets die Grundannahme, das alles – wirklich alles! – immer klingt. Von Alltagsgeräuschen wie das Hupen der Autos und das Zwitschern der Vögel, über Instrumentaltöne und die menschliche Stimme, bis hin zur ganzen Welt als Hör-Raum wird ein Bogen gespannt, der nicht nur zeigt, wie man aus Geräuschen des Alltags Musik macht, sondern ganz grundlegend infrage stellt, ob man Musik überhaupt „machen“ muss. Ob sie nicht einfach „(da) ist“. Scheinbar mühelos übertragen die beiden Verfasser ihre Faszination für das ständig schwingende Material, das uns allerorts umgibt, auf die Leser*innen und führen vor, wie Geräusche, die für das menschliche Ohr für gewöhnlich nicht wahrnehmbar sind, hörbar gemacht werden können. Von Künstler*innen wie Mark Bain oder Toshiya Tsunoda zum Beispiel, die sich auf das „Aushorchen“ von Gebäuden und Gegenständen spezialisiert haben. Mit Begeisterung erzählen die Autoren von konkreter Musik, die Alltagsgegenständen entlockt wird (Pierre Schaeffer), von kosmischen Klängen (Charles Ives) und jenen unseres Körpers (Henry Chopin), von Feldaufnahmen (Francisco López) und musikalischer Stille (John Cage).
„Musiker sind Maler“
Bereits die anschaulichen Erklärungen der polnischen Musikexperten lassen lebendige Bilder im Kopf entstehen, die auch komplizierte musikalische Funktionsweisen und technische Abläufe nachvollziehbar machen. Vervollständigt werden ihre launigen Texte in der Übersetzung von Thomas Weiler aber erst durch die Illustrationen des bewährten Sachbuch-Künstler*innenduos Aleksandra Mizielińska und Daniel Mizieliński. Deren lebhafte Bilder machen die Welt als Hör-Raum erst sichtbar und die Klänge auf den ausdrucksstark gezeichneten Doppelseiten (fast) hörbar. Mit bunt leuchtenden Farben und munterem Strich erzeugen sie jenen heiteren, peppigen Look, der das Buch besonders auszeichnet.
„Musik ist vertieftes Hören“
Vertiefen kann der/die Leser*in die schon ohnehin intensive Lektüreerfahrung auf einer eigens dafür gestalteten Website, auf der er/sie nun wahrlich zur Hörer*in wird. Unter www.wiedasklingt.de sind zahlreiche Aufnahmen, auf die im Buch (mehr oder weniger) ausführlich eingegangen wird, zum kostenlosen Nachhören bereitgestellt. Neben Musikstücken wie „Bad“ von Michael Jackson und dem zwölftontechnischen „Violinkonzert“ von Arnold Schönberg versammeln sich auf der Hör-Plattform auch Kuriositäten wie die älteste erhaltene Phonograf-Aufnahme von Thomas Edison oder die Klänge der von Bill Fontana 1987 installierten Satelliten-Ohrbrücke zwischen Köln und San Francisco. Ein geniales, nicht zu entbehrendes Komplement zu einem Buch, in dem es ums (ver)tiefe(nde) Hören geht!
„Musik ist ein Butterbrot“
Nicht nur anschaulich, sondern vor allem auch mit viel Witz und Selbstironie arbeitet dieses Sachbuch, das sich trotz seiner informationsvermittelnden Zielsetzung selbst nicht immer ganz so ernst nimmt. Aufmerksamkeit erzeugt schon das kompakte, quadratische Format. Die zunächst willkürlich erscheinende Themenabfolge entfaltet ein assoziatives Spektrum, das nicht linear von den ersten historischen Erkenntnissen über Geräusche bis hin zu modernsten Experimenten mit Klängen verläuft, in dem sich aber dennoch schlüssig eines aus dem anderen ergibt. Eine lineare, pausenlose Lektüre empfiehlt sich bei dieser Dichte an Informationen und Sinneseindrücken aber ohnehin nicht. Umso gelegener kommt das Angebot, immer wieder innezuhalten und einzelnen Tonaufnahmen online zu lauschen.
Claudia Sackl
Für Musiker*innen ebenso wie Nichtmusiker*innen (die es ja eigentlich – so haben wir in der Lektüre gelernt – gar nicht gibt) ist auch unsere >>>neue Buchliste, mit der das STUBE-Team eine Auswahl an Büchern und Medien rund um das Thema Musik zusammengestellt hat.
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