Kröte des Monats Sommer 2019
Aus dem Niederl. v. Eva Schweikart.
Gerstenberg 2019. € 26,00.
Bart Rossel und Medy Oberendorf:
Die wunderbare Welt der Insekten
„Herr Ober, hättn’s an Platz im Lokal? Ich möcht ja nicht mit den Wespen frühstücken!“, „Na heuer ist‘s aber wieder ganz schlimm!“ oder „I bleib bis de Viecha kumman, donn geh i wieda ham!“ Derlei Sprüche haben in Wien (und wahrscheinlich nicht nur hier) gerade Hochsaison. Ebenso jene Tiere, die dem Menschen den Appetit auf Aktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände völlig zu verderben scheinen: die Insekten.
„Die wunderbare Welt der Insekten“ schafft Abhilfe. Nicht, dass das Sachbuch eine Probepackung eines höchst effektiven Repellents beigelegt wäre oder die zehn besten Anti-Insektenmittel zum Selbermachen aufgelistet würden. Nein, dieses großformatige Sachbuch ist einfach dermaßen gut gestaltet, dass man sich im Handumdrehen in Insekten verliebt. „Verlieben“ ist vielleicht ein etwas starkes Wort, aber zumindest sorgen die Illustrationen von Medy Oberendorff und die Texte von Bart Rossel (auch die Übersetzung von Eva Schweikart trägt im Deutschen ihren Teil bei) für Faszination, was die Gliederfüßer betrifft. Bereits die ersten Sätze bringen auf den Punkt, warum man von dieser Tierklasse schlichtweg begeistert sein muss: „Insekten sind in so ziemlich allem Meister. Wenn du auch nur ein einziges Buch über Insekten liest, wirst du sehen, dass sie zweifellos die stärksten, die nützlichsten und die erfolgreichsten Tiere auf Erden sind.“ Keine Ahnung, was sie als erfolgreich auszeichnet, jedenfalls stellen Insekten darüber hinaus die höchste Artenvielfalt: „Etwa eineinhalb Millionen Tierarten sind mit Namen bezeichnet, und davon sind annähernd eine Million Insekten. Zwei Drittel aller Tiere sind also Insekten!“
Nun entsteht vielleicht der Eindruck, dass dieses Buch und somit auch Insekten einfach auf Grund all dieser Superlativen für Begeisterung sorgen. Dem ist auch so. Denn die puren Fakten, die auf einfache sowie spannungsvolle Weise und in fein portionierten Happen präsentiert werden, sind schlichtweg faszinierend. Doch das Sachbuch zeichnet sich nicht nur dank des „insect contents“ aus, sondern auch wegen der wirklich gelungenen Buchgestaltung. Im Konkreten sind es drei formale Merkmale, die sofort ins Auge „stechen“, wenn man eine der Doppelseiten aufschlägt: Illustration, Typographie und Layout. An einem Beispiel erklärt, sieht das folgendermaßen aus. Wenn auf den Seiten zwölf und 13 der Bauplan von Insekten erklärt wird, sieht man links eine feine, in blau gehaltene Illustration auf weißem Hintergrund, die eine Heuschrecke in ihre Einzelteile zerlegt und dabei stark an einen (technischen) Modellbauplan erinnert, wie man sie aus Kinder- und Jugendzeiten oder von bastelaffinen Hobbyvorlieben kennt. Per Legende wird erklärt, wie die Elemente heißen und wie sie in der Fachsprache genannt werden; die drei Abschnitte sind in Klammer sogar in lateinischer Sprache wiederholt: „Caput“, „Thorax“ und „Abdomen“. Rechts wird währenddessen in locker gesetztem Text genauer auf die Funktionen und die allgemeine Bauart der Tiere eingegangen. Hier, wie auf fast allen Seiten schützt viel Weißraum vor textlich bedingter Überforderung. Und dann kommt noch die Schriftform ins Spiel, die mit unterschiedlichen Schriftgrößen und Fettstellung die zentralen Merkmale mit wenigen Blicken wahrnehmbar machen: „Bauplan / drei / Kopf / Brust / Hinterleib / „geflügelt“ / Insekten / Kerbtiere / sechs Beine.“ So hat man bereits nach einer der ersten Seiten das Gefühl, die faszinierenden Tiere besser kennengelernt zu haben. Die Bild-Text-Typographie-Layout-Hintergrund-Verbindung wird stets beibehalten und führt dazu, dass man ein ordentliches Tempo beim „Sammeln“ der Fakten aufbaut. Man möchte sofort mehr über Schmetterling, Käfer und Co. erfahren und hält eventuell nur kurz inne, wenn man (angeleitet durch den Text) die eigene Hand neben eine Illustration legt, um einen erstaunlichen Vergleich an Ort und Stelle durchzuführen; schließlich sind die ganz Großen „Atlasspinner“, „Riesenweta“, „Goliath-“ sowie „Herkuleskäfer“ im Verhältnis 1:1 illustriert. Auch über die Illustration an sich gäbe es viel zu sagen, die meist auf sehr realistische Weise in den Kosmos der Insekten zoomen, jedoch stets auf weißem Hintergrund oder auf beeindruckenden Mustern, die die Natur für uns bereithält, freigestellt werden.
Von einem sehr guten zu einem ausgezeichneten Sachbuch (Achtung: allgemeine Sachbuchthese!) wird dieses Insektenlehrwerk jedoch durch jene Kapitel, die aus dem rein naturwissenschaftlichen in ein kulturaffines Metier führen. So erfährt man, warum die Juwelwespe (Ampulex dementor) nach einer Umfrage mit den Seelen-aussaugenden Dementoren namentlich in Verbindung gebracht wurden. Auch höchst spannend ist ein mexikanischer Brauch, der auf eine 3000 Jahre alte Legende zurückgeht, und demnach lebendige Käfer als eine Art Schmuckbrosche von Liebespaaren getragen werden. Der Höhepunkt (für mich) war schließlich die Verknüpfung naturwissenschaftlicher und forensischer Erkenntnisse, die anhand eines dramatischen Beispiels aus dem alten China (1247) veranschaulicht werden: ein Mordfall wurde mithilfe von Schmeißfliegen gelöst, da sich diese auf jene Sichel setzten, deren winzig kleine Blutspuren zwar nicht sichtbar, aber von den detektivischen Insekten wahrgenommen wurden.
Insekten sind also nicht nur die stärksten, nützlichsten und erfolgreichsten, sondern auch intelligente Tiere, deren oft zu Unrecht als hässlich empfundenes Antlitz in diesen Illustrationen eine gewisse Schönheit erhalten. Rossel, Oberendorff und Schweikart leisten Aufklärungsarbeit und Infotainment auf ästhetisch äußerst ansprechende Weise. Und wenn man die Stechmücken am Abend gar nicht mehr ertragen möchte, bietet die kühle Leseecke und dieses erkenntnisreiche Sachbuch eine abwechslungsreiche Alternative an.
Peter Rinnerthaler
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