Aus dem Niederl. v. Eva Schweikart. Thienemann 2019. € 15,00.

Annet Schaap: Emilia und der Junge aus dem Wasser

Wie erzählen von dieser dichten, intensiven Geschichte, ihren Drehungen und Wendungen, die sich nach und nach zu einem überraschenden Ganzen zusammenfügen und von einem eigenwillig schillernden Figurenensemble bewegt werden? Da ist Augustus Wassermann, ursprünglich Steuermann, der sich – nachdem er beim Kampf um seine Frau ein Bein verloren hat – als Leuchtturmwärter verdingt und mit seiner Tochter Emilia, genannt Lämpchen, im Leuchtturm lebt. Diese unerschütterliche Emilia, die in ihrer Hilflosigkeit und Überforderung ebenso präsent und authentisch ist wie in ihrer Stärke und Kraft und alle und alles um sie herum aufrüttelt. Da ist die hinterhältig-intrigante Lehrerin Fräulein Amalia, die Lämpchen als Dienstmädchen ins „Schwarze Haus“ bringt, in dem angeblich ein Monster haust. Jedenfalls aber Martha, die Haushälterin, eine verbitterte, ängstliche und doch gutmütige Frau, die – aus Sorge um ihren geistig beeinträchtigten Sohn Lennie – nicht immer das tut, was sie eigentlich spürt. Ja, Lennie, ein liebenswerter, scheuer und ängstlicher Junge, der sich letztendlich als treuer Begleiter und Beschützer erweist. Ebenso wie Nick, der gute Geist im Schwarzen Haus, zurückhaltend-sensibler Helfer, für alle, die in Not sind. Und da ist das „Monster“, eigentlich Edward Robert George Evans, Sohn des auch in seiner Abwesenheit stets bedrohlich präsenten Admirals und einer verschwundenen Meerjungfrau, ein Zwischenwesen, das weggesperrt, bissig und aggressiv geworden ist. Bis Edward von Lämpchen, die ihn Fisch nennt, „gefunden“, hartnäckig in eine freundschaftliche Beziehung verwickelt und über alle Hindernisse hinweg seinem eigentlichen Element, dem Wasser, zugeführt wird. Davor aber beinahe von Ivo, dem bösartigen Schaubudenbesitzer, als neue Attraktion für seine „Freakshow“ gefangen, auf spektakuläre Weise gerettet wird und erstmals von seiner Mutter hört. Und schließlich taucht auch der Admiral auf, ein selbstgerechter, gefühlskalter Mann, der keine Schwächen duldet, seinen Sohn jahrelang versteckt gehalten hat und am Ende an Ivo verhökern will.

Diese und noch viele andere besondere Menschen treiben die in sechs Teile gegliederte Erzähhlung (jeweils mit einer atmosphärischen, doppelseitigen Schwarz-Weiß-Illustration eingeleitet) in atemberaubendem Tempo voran. Der Plot mäandert zwischen Märchen und Realität, scheint in Ton und Motivik bisweilen an Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, anzudocken, um plötzlich in eine harte, zeitlich und örtlich nicht definierte Realität zu kippen, die wiederum den Boden für unvermutete, trotz aller Unglaublichkeiten doch seltsam-plausible (Ver-)Wandlungen bereitet. Damit wird ein tragfähiges Handlungsgerüst gebaut, das die vielfältigen und komplexen Fäden auseinander- und wieder zusammenführt, kurze Verschnaufpausen verschafft und in einem furiosen Finale diverse Zusammenhänge und die Herkunftsgeschichten der beiden jungen Protagonisten offenlegt. Die klug aufgebaute Dramaturgie und der dynamische Spannungsbogen entwickeln eine Faszination, der man sich nicht entziehen kann (und will). Das ungewöhnliche Setting an einer rauen See, ein mutiges Mädchen, dessen Kopf vor lauter Sorgen manchmal durcheinander ist, dessen Kraft es selber nicht kennt, aber im entscheidenden Moment intuitiv einzusetzen weiß, ein Junge, der aufgrund seiner Besonderheit weggesperrt und gezwungen wird, ein Leben zu führen, das ihm nicht entspricht und rund um die beiden vom Leben geschlagene, gestrandete Menschen, deren Mängel ebenso evident sind wie ihr Mut, und die – mit sich selbst ringend – in ihren jeweiligen Verbannungsorten ausharren, bis sie sich, einander erkennend, daraus lösen können. Der spröde Erzählton, rau wie die See, voller aufwühlender Spannungs-Schaumkronen, passt kongenial zu der traurig-fesselnden Geschichte von Unterdrückung und Hineingeworfensein, von verlorenen Lieben, Streit und Versöhnung und nicht zuletzt von selbstbestimmten Entscheidungen, verborgene Pfade freizulegen.

Annet Schaap, die an der Kunstakademie in Kampen und Den Haag studierte und eigentlich als Buchillustratorin arbeitet, hat sich mit „Lampje“ – so der Originaltitel – den Traum des Schreibens erfüllt. Ein Traum, den zu verfolgen sich zweifellos gelohnt hat und der in einer überzeugenden, stimmigen Übersetzung eine bereichernde Erweiterung fand.

Ela Wildberger

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