Kröte im Sommer
2018
Das STUBE-Team "sag[t] beim Abschied leise Servus".
Sommerbeginn – das kann Vorfreude bedeuten, aber auch Übergang und Abschied. Die STUBE nimmt Abschied vom Königskinder-Programm, das nach vier Jahren eingestellt wird. Das allererste Programm wurde im Dezember 2014 mit einer >>>Kröte des Monats willkommen geheißen, in der mehrere Titel vorgestellt wurden – so wird nun der Bogen geschlossen mit einer Kröte, die aus jeweils zwei Leser*innen-Perspektiven die Bücher des letzten Programms in den Blick nimmt.
Aus dem Amerik. v. Nadine Püschel.
Köngiskinder 2018.
€ 19,99.
Marci Lyn Curtis:
Dieser Augenblick, erschreckend und schön
Zuerst war es das „rosa Buch“, von dem eine schwülstige Liebesgeschichte erwartet wurde. Dann wurde es das außerordentliche rosa Buch, das ein schwieriges Thema mit einer Liebesgeschichte stilsicher verwob.
Mit heftigem Inhalt, dynamisch wie eine gute Serie geplottet und dennoch an den wichtigen Stellen sensibel: so könnte zusammengefasst werden, wie es Marci Lyn Curtis gelingt, von der labilen Grace zu erzählen, die nach zwei Jahren ins Küstenstädtchen New Harbor zurückkehrt, ihre ehemals beste Freundin und ihren Ex-Freund wieder trifft und sich ihrer für die Leser*innen vorerst noch unklaren düsteren Vergangenheit stellen muss, die sie so zerstörte.
Wie es der jungen Frau gelingt, über die Erfahrung von sexualisierter Gewalt zu sprechen und wieder selbstbestimmt ins Leben zu finden, ist in diesem High-School-Setting leichtfüßig, und empfindsam gleichzeitig erzählt. Grace ist eine energische Stimme, deren Gefühle aus der Ich-Perspektive genau und nachvollziehbar beschrieben werden und die ein liebevolles und unterstützendes Figurenrepertoire zur Seite gestellt bekommt.
Ein Buch, das sich optimistisch an ein schwieriges Thema wagt – und damit richtigliegt.
Jana Sommeregger
Nun, ich war (dank Jana Sommeregger) vorbereitet: es wird keine Liebesgeschichte für frühsommerliche Sonntag-Nachmittage am Balkon. Oder doch? Denn Grace erzählt zwar entlang den Bruchlinien ihres Lebens – sie tut dies aber stilistisch überraschend schwerelos, pointiert und ohne der Tragik der Situation komplett zu verfallen. Sie inszeniert sich nicht als Opfer, sondern zeigt, dass sie zwar todtraurig ist, aber dennoch dem Leben und seinen Herausforderungen zugewandt bleibt.
Dem Leben, in dem alles so einfach sein könnte; in dem unangekündigte Mathetests, brüchige Fingernägel und sprödes Haar zur zentralen Herausforderung werden könnten. Und nicht die Trauer. Und nicht die Wahrheit.
Diese beiden – Trauer und Wahrheit – sind in Marci Lynn Curtis Romankonzeption untrennbar miteinander verbunden; denn die Trauer holt die Wahrheit ans Licht, als Grace nach dem Tod ihres Vaters an jenen Ort zurück kehrt, an dem sie jahrelang glückliche Ferientage verbracht hat; an dem sie aber auch Owen wiedertrifft, den Kinderfreund, die Jugendliebe. Derjenige, der sie vermeintlich vergewaltigt hat. Ist es also Zeit, die Kiste zu öffnen, in der Grace ihre Erinnerungen gut verschlossen hat?
Der Erinnerungsprozess wird zunehmend parallel geführt mit einem Detektionsprozess, denn Grace Wiederbegegnung mit Owen verunsichert Grace in mehrfacher Hinsicht. Warum empfindet sie noch immer Vertrauen für jemanden, der sich an ihr vergangen hat, als sie durch Schlafmittel außer Gefecht gesetzt war? Reicht dieses Vertrauen so weit, dass sie Owen glaubt, der immer und immer wieder seine Unschuld beteuert? Was aber ist in dieser Nacht dann wirklich passiert?
Auch wenn Grace‘ Blick auf das Geschehene getrübt ist, erzählt sie klarsichtig und ohne Pathos – aber durchaus bilderreich: „Genau hier, genau jetzt. Dieses Gefühl von Vertrautheit und Geschichte und Zugehörigkeit. Ich will es an meine Brust drücken und nie mehr loslassen.“
Am Beginn des Romans steht ein Ankommen, das letztlich zu einem Nach-Hause-Kommen werden kann; denn Grace der Ortswechsel, in dem die Ereignisse begründet liegen, führt dazu, dass Grace ihr eigenes Lebens erneut betrifft, erneut zu durchstreift – und damit erstmals zu begreifen lernt.
Heidi Lexe
Aus dem Austral. v. Birgit Schmitz.
Köngiskinder 2018.
€ 16,99.
Dianne Touchell: Foster vergessen
Plötzlich mitten in einem Satz nach einem Wort suchen. Das Klo nicht mehr rechtzeitig finden. Und schließlich seine engsten Familienangehörigen nicht mehr erkennen. All diese qualvollen, schrittweise einsetzenden Folgen von früh einsetzendem Alzheimer hat Julianne Moore im auf einem Roman von Lisa Genova basierenden Film „Still Alice“ dargestellt (und wurde dafür mit einem Oscar für die beste weibliche Hauptrolle prämiert). Während der Film konsequent die Perspektive der erkrankten Person einnimmt, setzt die australische Autorin Dianne Touchell einen anderen Fokus, nämlich den des siebenjährigen Foster. Sein Vater ist in seinem Kinderleben eine wichtige Konstante, und eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen ist es, miteinander Geschichten zu erzählen. Als der Vater immer vergesslicher wird und nach einer langen Unklarheit schließlich die Diagnose Alzheimer feststeht, ist es also neben all den eingangs geschilderten schwerwiegenden Verlusten auch die Unmöglichkeit des Geschichten Erzählens, die Foster zu schaffen macht (und einem beim Lesen das Herz schwer werden lässt). Besonders beklemmend ist dabei, wie der Vater und Foster gemeinsam den (gesunden) Erwachsenen ausgeliefert sind, wenn z.B. eine Nachbarin gegen Bezahlung auf die beiden „aufpasst“ und dabei sehr ungut wird. Eines der Qualitätsmerkmale des Königskinder-Programms war stets die bedachte Buchgestaltung, die hier noch ein letztes Mal einen Höhepunkt findet - und deren besondere Ausgeklügeltheit sich erst zeigt, wenn der Schutzumschlag abgenommen wird.
Kathrin Wexberg
Was passiert mit dem achtjährigen Foster Hirum Wylie, der wohl behütet und umfangen von der Liebe seiner Eltern, vor allem von den Geschichten und der besonderen Aufmerksamkeit seines Vaters aufwächst und plötzlich mit bröckelnden Familienstrukturen konfrontiert wird? Wenn sein Vater sich unübersehbar verändert, Dinge vergisst, sich seltsam verhält, sogar verloren geht? Wenn Foster plötzlich auf seinen Dad aufpassen muss, wo es doch früher umgekehrt war?
Mit der unvermutet auftretenden Alzheimer-Erkrankung seines Vaters gerät Fosters bis dahin heile Welt in eine bedrückende Abwärtsspirale und er selbst mehr und mehr ins Abseits. Immer öfter kommt es zu Eskalationen und aggressiven Schüben des Vaters, die Foster irritiert zurücklassen. Mit verzweifelter Innigkeit versucht er, den Zustand des Vaters in sein Dasein zu integrieren und verirrt sich dabei immer wieder in den notwendig gewordenen „neuen“ Verhaltensregeln.
Intensiv und unverblümt richtet Dianne Touchell den Fokus ganz und gar auf Fosters Wahrnehmung und Gefühle und thematisiert damit nicht nur eine schwere Krankheit, sondern vor allem die damit einhergehenden Veränderungen im Leben der Angehörigen, insbesondere die Vereinsamung des Kindes, das in seinen Bedürfnissen und Unsicherheiten von den Erwachsenen übersehen, ja fast „vergessen“ wird. So wie die Krankheit den Vater vergessen lässt und die Vertrautheit und Nähe zu seinem Sohn auf eine andere, unberechenbare Ebene hebt. Bleibt die Frage nach der Zielgruppe: Für Leser*innen in Fosters Alter sind Setting und Dramaturgie zu komplex; für eine ältere Zielgruppe ab 13 könnte das Alter des Protagonisten eine Hürde darstellen. Dennoch: Dieses bemerkenswerte Buch, das Raum für die Unberechenbarkeiten des Lebens öffnet, sei allen - Jugendlichen ebenso wie Erwachsenen – unbedingt empfohlen.
Ela Wildberger
Aus dem Engl. v. Josefine Haubold.
Köngiskinder 2018.
€ 19,99.
Haley Long: Der nächstferne Ort
Dass die englische Autorin Hayley Long experimentierfreudig ist, wusste man spätestens nach „Sophie Soundso“ (Carlsen Königskinder 2015). War es damals noch Sprache an sich, die originären, für die Lektüre aber auch etwas anstrengenden Metamorphosen unterworfen wurde, wird in Longs zweitem ins Deutsche übersetzen Text nun ein erzählerischer Twist zum Dreh- und Angelpunkt.
London, München, Barcelona, Shanghai, New York. In all diesen Städten hat der Ich-Erzähler Dylan schon gelebt, und dass, obwohl er erst 16 Jahre alt ist. Seine Familie führt ein nomadisches Dasein. Mit seinen Eltern und seinem 13-jährigen Bruder Griff zieht er ständig durch die Welt. Bei einem tragischen Autounfall kommen ihre Eltern jedoch plötzlich ums Leben. Als Griff danach im Krankenhaus aufwacht, ist für Dylan eines klar: Er muss seinen kleinen Bruder beschützen, ihn durch seine Trauer leiten und begleiten, ihn wieder ins Leben führen. Der folgende primäre Erzählstrang ist auf das zukünftige Danach ausgerichtet, das unweigerlich eintritt. Gefühlvoll erzählt Long von den Versuchen, wieder Fuß zu fassen in einer Welt, in der man sich plötzlich schmerzhaft einsam wiederfindet. Zuerst kommen die Brüder bei ihrer exzentrischen Schuldirektorin in Brooklyn unter, bald darauf werden sie von der Cousine ihrer Mutter nach Aberystwyth verschifft. Mit dieser Rückkehr nach Großbritannien, an einen Ort, der nicht nur geographisch und kulturell fremd ist, sondern sich auch der sprachlichen Erschließung entzieht – alle sprechen hier Walisisch –, kehren die Brüder an ihren Ausgangs- und Herkunftsort zurück. In der Verrückung von den modernen, kosmopolitischen Metropolen des scheinbar unwiderruflich verlorenen Davors in die Kleinstadt in der Provinz spiegelt Long gekonnt jenen Rückzug ins Innere wieder, den die Protagonisten durchlaufen. Dylan flüchtet sich, wenn alles zu viel wird und die Unerträglichkeit der Situation überhandnimmt, an den „nächstfernen Ort“: einen immer anderen Ort in seinen Erinnerungen, die als Mosaik der Vergangenheit das Davor der Familie, vor allem aber das Davor einer unvollendeten Beziehung in Versatzstücken aufblitzen lassen. Im Gegensatz zum Haupterzählstrang, der ganz auf Griff hin ausgerichtet ist und in dem Dylan fast wie besessen von seinem Bruder scheint, spricht er erst in diesen Seitensträngen mehr über sich selbst.
„Der nächstferne Ort“ ist aber keine – wie man zunächst vielleicht annehmen könnte – Adoleszenzgeschichte über Dylans Ichfindung nach dem Unfall. Im Zentrum stehen vielmehr die Beziehung der beiden Brüder, der Trauerprozess des kleinen Bruders und das Nicht-Loslassen-Können des älteren. Am Ende aber müssen beide ihre Identität neu zusammensetzen.
Claudia Sackl
Als Griff und Dylan bei einem schrecklichen Autounfall ihre Eltern verlieren, sind sie plötzlich ganz allein auf der Welt. Bis jetzt haben sie gemeinsam mit ihren weltoffenen Eltern schon überall gelebt: in Shanghai, München, Barcelona und zuletzt sogar in New York; einerseits war der ständige Ortwechsel spannend, denn es gab immer eine Menge zu erleben, andererseits sorgte das ständige Umziehen auch dafür, dass sie sich nirgendwo so richtig zu Hause fühlten. Als einzige Konstante in ihrem Leben waren es ihre Eltern, die dafür sorgten, dass sie sich sicher und geborgen fühlten, egal, wo sie sich auf der Welt befanden. Während der jüngere Griff mit seinem eigenen Schmerz nur sehr schwer umgehen kann, scheint Dylan seine Rolle als großer Bruder übertrieben ernst zu nehmen.
Über Dylans personale Erzählperspektive erleben wir die Wiedereingliederung des Jüngeren in das Leben über eine gewisse Distanz hinweg, die dafür sorgt, dass Trauer und Verlust nachvollziehbar vermittelt werden, ohne dabei das Lesen zu erschweren. Dass sich Griffs Art zu Trauern so sehr von der seines Bruders unterscheidet, kommt im letzten Drittel des Romans zu einer stimmigen Konklusion. Solange reisen wir mit Dylan immer wieder an einen „nächstfernen Ort“ – so zumindest nennt er die Erinnerungen, die ihn ganz unmittelbar einzuholen scheinen. In Form von klassischen Rückblenden ermöglichen seine „Reisen“ einen direkten Einblick in das frühere Leben der beiden Brüder. Dass sich Dylan dabei sowohl physisch als auch psychisch vom aktuellen Geschehen entfernt, simuliert der Text, indem er die Übergänge deutlich markiert und wie eine Brücke zwischen den Absätzen erscheinen lässt.
Sie fungieren also nicht nur als erzählerisches Moment, sondern tragen auch rein innerfiktional zur psychischen Verarbeitung des schrecklichen Unfalls bei – als würde er auf diese Weise sanft von seinem früheren Leben mit den Eltern Abschied nehmen. Durch geschicktes Spiel mit der Erzählperspektive und den Figurenkonstellationen ergibt sich nach und nach ein retrospektives Bild des Lebens, das Dylan und Griff einmal gelebt haben, während sich, mit Blick nach vorn, in der Ferne bereits ihre Zukunft abzeichnet: gleich dort, am "nächstfernen Ort".
Julia Krokoszinski
Aus dem Amerik. v. Ingo Herzke.
Köngiskinder 2018.
€ 18,99.
Jean Webster: Lieber Feind
Die gute Nachricht vorweg: Man muss den ersten Band nicht gelesen haben, um mit diesem Buch seine Freude zu haben. Mit „Lieber Daddy-Long-Legs“ ist im letzten Jahr eine Neuübersetzung von Jean Websters Briefroman von 1912 erschienen, nun hat Ingo Herzke auch „Lieber Feind“ ins Deutsche übertragen. Im ersten Roman wird Judy Abbott von einem mysteriösen Gönner aus dem John-Grier-Waisenheim „gerettet“ und zum Studium an eine Universität geschickt. In Briefen an ihren Förderer berichtet sie von ihrer Eroberung von Bildung und Kultur, von Ansätzen der Frauenbewegung und erinnert damit auch ein wenig an „E-Mail für dich“ – schließlich ist der mysteriöse Adressat dann doch jemand vertrauter …
In der Fortsetzung „Lieber Feind“ ist Judy bereits verheiratet und ihre Freundin Sally McBride soll eben jenes Waisenhaus übernehmen, in dem Judy aufgewachsen ist. Als temperamentvolle junge Dame richtet Sally ihre scharfzüngigen Briefe an Judy und andere und zeigt, wie erstaunlich zeitgenössisch Humor von 1915 sein kann. Mit enormen Drive mischt Sally das altmodische Haus auf – bis hin zur unsäglichen Uniform: „Mir will nicht einleuchten, wie ein Mädchen auch nur eine Spur von Selbstachtung bewahren kann, wenn sie einen roten Flanell-Unterrock tragen muss.“
Neben launischen Szenen voller Situationskomik erzählt der Roman letztlich von einer Epoche, in der die Reformpädagogik ihren ersten Höhepunkt hatte, in der Lob und Ermunterung noch als „neue Disziplinierungsmethode“ galten und Fröbel zur Pflichtlektüre solcher Anstalten wurde. Anlass zur Reflexion findet Sally in dem mürrischen, gutaussehenden Kinderarzt Dr. Robin MacRae, der ihr viele Nerven abverlangt, aber – Überraschung – am Ende dann doch nicht nur der „Feind“ ist, an den die titelgebenden Briefe gerichtet sind. „Sie mögen der Welt gegenüber barsch und knapp und ungnädig und rational und unmenschlich und SCHOTTISCH auftreten, aber mich können Sie nicht täuschen“ …
Jean Webster zelebriert in ihrem Roman die Kunst des Briefeschreibens und lässt ihre kluge Heldin geistreich die Feder schwingen. Die entsprechende Übersetzung von Ingo Herzke ist so geschliffen, dass man dem Text sein Alter nicht anmerkt. Was aber auch einen Haken hat: Sie erschwert die historische Einordnung; vor allem dann, wenn die Entstehungszeit des Textes nur im Impressum zu finden ist. Wenn dann zwischen den modernen Reformbestrebungen Kinder objektiviert werden – bis hin zu Überlegungen der Eugenik – wäre es eigentlich höchst angebracht, diesen Zeitgeist auch kontextualisiert zu wissen – in der Biografie, auf der Klappe, im Vorwort. Ein Versäumnis, das auch das kritische Nachwort nicht wettmachen kann.
Christina Pfeiffer-Ulm
Wer Klaus Kinski kennt wird bei Jean Websters Romantitel „Lieber Feind“ automatisch an „Mein liebster Feind“ denken müssen. Also an jene Dokumentation, in der Werner Herzog im Jahr 1999 über das ambivalente Verhältnis zu einem der wohl umstrittensten deutschen Schauspieler nachdenkt. Herzogs erzählerisches Doku-Meisterwerk ist Abrechnung sowie Hommage mit/an eine/r Künstlerfigur zugleich, das im Lexikon als das Paradebeispiel unter dem Begriff „Hassliebe“ angeführt werden sollte. Einerseits ist es Kinskis Mimik und dessen unerschütterlicher Weltzorn, andererseits ist es Herzogs unerreichte Kunst des Narrativierens, das diesen Film unvergessen macht: „Kinski hat sich in diesem [Bade-]Zimmer zwei Tage und zwei Nächte, 48 Stunden lang eingesperrt und hat in Tobsuchtsanfällen alles kurz und klein geschlagen: die Badewanne, die Kloschüssel, alles was da war konnte man hinterher durch ein Tennisracket sieben.“ Auch das scheinbar lustvolle Fabulieren über die diabolischen Kompetenzen geliebter Feinde klingt in Ingo Herzkes Übersetzung ähnlich: „Er hatte die große grüne Blumenschale von der Fensterbank geschubst und in fünfhundert Scherben zerbrochen. Ich zuckte heftig zusammen und stieß dabei mein Tintenfass zu Boden, und als Punch diese zweite Katastrophe bemerkte, hörte er mit seinem Wutgebrüll auf, warf den Kopf in den Nacken und fing schallend zu lachen an. Der Junge ist wirklich TEUFLISCH.“ Doch weder der Titel noch die Lust an der Zerstörung dürfen als Plagiat interpretiert werden, da der Roman „Lieber Feind“ ja bereits im Jahr 1915 zum ersten Mal als "Dear Enemy" publiziert wurde. Und auch die eben erwähnte Figur „Punch“ ist nicht DER „liebe Feind“, sondern „nur“ eines von über 100 Waisenkindern, denen Sally McBride als Leiterin des John-Grier-Heims in der Nähe von New York vorsteht. Die Anrede „Lieber Feind“ ist ausschließlich Dr. MacRae vorbehalten, jenem stocksteifen Anstaltsarzt, dem Protagonistin Sally McBride zahlreiche Briefe schreibt und ÜBER den die Protagonistin in zahlreichen Briefen an die beste Freundin schreibt. „Lieber Feind“ ist ein Briefroman ohne direkte Antworten, der sich aber durch Zeitsprünge, Leerstellen, Banalitäten, Emotionen, Liebenswürdigkeit, Direktheit und einer heiklen, weil längst überholten, medizinischen Thematik auszeichnet: „Die Vererbungslehre bzw. die Eugenik (Erbgesundheit) war Anfang des 20. Jahrhunderts weit verbreitet und wurde gesellschaftlich breit diskutiert.“, heißt es in der Nachbemerkung und sensibilisiert leider nur am Rande und rückblickend für beschriebene Erziehungsmethoden, Weltanschauungen und Formulierungen, die in diesem über 100 Jahre alten Roman für jugendliche Leser*innen in Briefform angeboten werden.
Peter Rinnerthaler
>>> hier geht es zurück zu den Kröten 2018.