Aus dem Franz. v. Katharina Knüppel.
Prestel 2018. € 25,70.

Gilles Clément und Vincent Gravé: Ein großer Garten

Großformatige Sachbücher haben derzeit Konjunktur. Für dieses mit 42 cm x 30 cm bemessene Buch braucht es aber eine besonders geräumige Lesesituation, wird es beim querformatigen Aufschlagen doch so groß (und vor allem lang), dass die Doppelseiten nur bei genügender Entfernung auf einen Blick erfasst werden können. Der von Katharina Knüppel aus dem Französischen übersetzte Titel sprengt jedoch nicht nur die Format-Grenzen des bisher Bekannten. Zugleich Sachbuch, Wimmelbuch und Bilderbuch, folgt es den Metamorphosen des Gartens im Rhythmus der Jahreszeiten und einem grundsätzlichen Ordnungsprinzip nach Monaten: Jedem Kalendermonat wird eine Doppelseite gewidmet, die jeweils einen kurzen (Sach-)Text auf der linken Seite mit einer abfallenden Wimmelbild-Illustration auf der rechten Seite kombiniert. Auch Suchhinweise gibt es. Diese fallen manchmal ganz traditionell und konkret, manchmal herausfordernd kryptisch aus, was den Suchspaß deutlich erhöht. Damit ist es aber auch schon vorbei mit den eingehaltenen Genrekonventionen.

So einiges fällt in diesem Buch aus der zeitlichen und räumlichen Ordnung, wenn das Jahr beispielsweise nicht bei Kalendermonat Nr. 1, sondern im Mai beginnt (wo ja die meisten Pflanzen gesät werden) oder der Weihnachtsmann schon im November auftaucht. Begonnen wird allerdings chronologisch, bei der menschheitsgeschichtlichen Entstehung des Gartens, wobei Gillés Clement in seinem lakonischen Ton die menschliche Transformation von Jäger- und Sammler*innen zu modernen Konsument*innen gekonnt auf den Punkt bringt:

Früher fanden [die Menschen] das Saatgut und die Pflanzen in der Wildnis, in der Nähe ihrer Dörfer oder sogar weiter weg, wenn sie auf Reisen gingen. Sie sammelten. Heute gehen sie in ein Geschäft. Sie kaufen.

Im Mittelpunkt steht damit gleich zu Anfang nicht der kleinbürgerliche Garten hinter dem Haus, sondern der kommerzielle Anbau von Gemüse und Früchten auf großflächigen, geordneten Feldern. Aber keine Sorge: die kleine private Wildnis findet genauso Platz wie der große Wald und die bunte Blumenwiese. Der Detailreichtum der Bilder, die gewohnte Größenverhältnisse und die Grenzen des Realen außer Kraft setzen, unterstreicht dabei stets die Formenvielfalt der Natur und die Magie des Wachsens. Die über- sowie unterirdischen Bildwelten werden als geheimnisvolle, vor Leben überquellende Labyrinthe inszeniert, in denen sich die im Text oftmals anthropomorphisierten Pflanzen und Wurzeln auf wundersame, aber selbstbestimmte Weise ihre Wege durch eine Natur bahnen, die sich vom Menschen nur bedingt domestizieren lässt. Die wimmelnden Gärtnerfiguren (deren schelmisch-absurder Diversität neben dem Vor- und Nachsatzpapier im Monat September eine ganze Bildseite gewidmet wird) treten dabei nicht als menschliche Gärtner*innen, sondern als mikroskopisch kleine, geschäftige Heinzelmännchen auf. De-individualisiert mit immer gleicher Latzhose und leeren Gesichtern, widmen sie sich immer neuen ausgefallenen Tätigkeiten, die einmal mehr, einmal weniger mit Gartenarbeit zu tun haben. Sie bewässern die Felder, pflegen das Grün, bauen Fernsehantennen aus Marienkäfern und schießen Brombeer-Teilchen mit Kanonenrohren durch die Lüfte.

Die feinen Zeichnungen voller intertextueller und kultureller Anspielungen entziehen sich zudem jeglicher traditioneller Wimmelbuchästhetik und erscheinen wie Ausschnitte eines Mikrokosmos, den wir uns durch den Blick eines Mikroskops erschließen. Pro illustrierter Seite übernimmt immer eine Frucht-, Gemüse- oder Pflanzensorte die Hauptrolle, die sich gemeinsam mit den vervielfachten Miniaturgärtnern, unterschiedlichen tierischen Bewohnern und gartenfremden Versatzstücken in hybride, surrealistische Landschaften einfügen. Immer wieder verstecken sich Augenpaare in den mal gewissenhaft strukturierten, mal wild wuchernden Gartendarstellungen. Faune verschmelzen als Götter der Natur ganz körperlich mit der Erde und futuristische Pflanzenarten erinnern eher an extraterrestrische Science Fiction als an botanische Dokumentation. Die sachliche Informationsvermittlung tritt dabei zugunsten der Imagination phantastisch-absurder Welten in den Hintergrund. Wenn sich Raumschiffe als Pilze tarnen und Spiegeleier aus Brombeeren platzen, dann erübrigt sich auch die Frage, wer zuerst da war, die Henne oder das Ei.

Die dazugehörigen Texte zeigen sich meist weniger übermütig, aber ebenso unkonventionell. Einerseits geben sie konkrete praktische Hinweise zu den Aufgaben eines Gärtners sowie allgemeine Informationen zur Pflanzenwelt. Angereichert durch kurze philosophische Exkurse und humorvolle Passagen, gehen sie andererseits aber deutlich über diesen sachlichen Aspekt hinaus:

Stets steckt [der Gärtner] die Hände in die Erde und schaut in den Himmel. […] Zwischen der Saat und der Ernte wacht der Gärtner, er staunt und … gärtnert. Gärtnern heißt zu verstehen, was passiert, und auf das zu reagieren, was nicht vorhersehbar war. […] Der Blumenwald lässt den Gärtner, der seine Hasen- und Ameisenaugen für ihn öffnet, staunen. Er versteht zwar nicht alles, aber er ist sehr interessiert. Also legt er sich hinein in den Wald und lauscht. Auch er versucht, mit den Pflanzen zu sprechen, er tut, was er kann. Manchmal schläft er dabei ein.

Der konstante Frohsinn der Gärtner erstarkt jedoch, als im Januar der Schnee des Winters und das Eis der Welt bis ins Wohnzimmer schmelzen. In poetischen und zugleich subversiven Zeilen stellt Gillés Clement Fragen nach der Zukunft der Gärtner des Planeten, denen Vincent Gravé ein apokalyptisches Szenario einer unter Wasser getauchten, verschmutzen Welt gegenüberstellt. Nicht nur in der Verbindung unterschiedlicher Genres liegt also die Stärke dieses bemerkenswerten Buches, sondern auch in seiner differenzierten Darstellung der vermeintlichen Oppositionen von Natur und Kultur, die zuletzt auch eine ökokritische Perspektive übernimmt.

Claudia Sackl

 

Passend zum Thema Garten hat das STUBE-Team eine Auswahl an Büchern zusammengestellt, deren Bandbreite vom Pflanzensachbuch über den Insektenkrimi bis hin zum Kunstmärchen reicht. Zur annotierten Themenliste geht es >>>hier

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