Carlsen 2017. € 14,99.

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch


Heiligabend, dachte ich, heute ist Heiligabend!
Geschenke, Geschenke, Geschenke!

Seit jenem Sommer, als die Sache mit dem Diebstahlstein für einen ungeplanten Ausflug an die Nordsee (oder war es die Ostsee) gesorgt hat, ist einige Zeit vergangen. Zumindest eines konnte Rico seitdem klären – die Sache mit der geografischen Lage der angesprochenen See:

„Westsee: Inzwischen habe ich es rausgekriegt, glaube ich: Irgendwann stand ein Holländer oder Deutscher oder Franzose an seiner Landesküste, guckte aufs Wasser und brüllte Erster, Nordsee!, was von da aus betrachtet auch richtig war. Die Dänen haben unterdessen rumgemütlicht, also sollen sie sich mal nicht beschweren. Man fragt sich allerdings, was passiert wäre, wenn zur selben Zeit in Großbritannien ein Engländer an der Küste gestanden und Erster, Südsee! gebrüllt hätte.“

Rico war seitdem nicht mehr an der See, weder an der West-, noch der Nord-, noch der Ost-. Anders als Oskar, der mit seinem Vater in Dänemark geurlaubt und von dort eine Schneekugel mit der kleinen Meerjungfrau mitgebracht hat. Und obwohl für Rico die Frage nicht restlos geklärt wurde, warum dieses weibliche Fischwesen Hans Christian heißt, ist mit der Schneekugel dennoch die Brücke zum Heiligabend geschlagen. Denn: Schnee, Schnee und nochmals Schnee ist dessen inoffizielles Motto.
Berlin versinkt im Schneesturm; und wenn Rico früher am Tag noch geglaubt hat, dass alleine die Frage nach Geschenken ihn an diesem Abend umtreiben wird, dann hat er sich geirrt. Obwohl: Bei Kesslers fand die Bescherung schon früher statt und die (männlichen) Zwillinge haben eine Schneekanone geschenkt bekommen, die Seifenlauge durch die Gegend sprüht und für chaotisch-glitschige Zustände im Stiegenhaus sorgt. Im Sinne der Tatsache, dass ständig zwischen den Stockwerken gewechselt werden muss, weil – schließlich ist es Heiligabend – gleich zwei unerwartete Geburten anstehen und beide werdenden Mütter angemessen versorgt werden müssen. Denn hinaus kann niemand mehr und herein nur jene, die sich aus wahrer Liebe durch Schnee und Sturm schlagen und gegen Ende die Ersatz-Yetis geben.

Nachdem sich Ricos Aktionsraum bisher also Band für Band erweitert hat, sorgen die metrologischen Vorbedingen in diesem Weihnachts-Special für den totalen Rückzug in den ursprünglichen Ausgangsort der bisherigen Trilogie. Die Dieffe 93 jedoch hat sich verändert: Dorettis (Mama und Rico) logieren nun dort, wo früher der Marak gewohnt hat und sind mit der Wohnung vom Bühl (West- oder Ost-) durch eine Wendeltreppe verbunden, die Rico aufgrund der malerischen Ausgestaltung der durchbrochenen Verbindungsdecke das Aquarium nennt. Wobei Rico den Doretti-Wohnraum viel für sich alleine hat, denn (die Begriffserklärungen zu Romantik, Bluthochdruck, Hysterie und Genom deuten bereits darauf hin) Ricos Mutter bewegt sich kaum noch vom Sofa der unteren Wohnung weg; schließlich erwarten sie, der Bühl und natürlich auch Rico sehnsuchtsvoll den neuen Nachwuchs. Somit wäre das Geheimnis um eine der beiden Geburten geklärt; jenes um die zweite knüpft an ein weiteres Geheimnis an: Oskar, der mit Lars in die ehemalige Doretti-Wohnung gezogen ist, scheint etwas vor Rico verbergen zu wollen, das mit einem Kellerabteil und Damenunterwäsche zu tun hat. Und damit, dass der Heiligabend jener Tag ist, an dem Schwangere nach Herberge suchen. Wie gut, dass Massoud, der mittlerweile ohne WG-Jule-und-Bert lebt, über Weihnachten nicht da ist und Oskar dessen Wohnung hütet; und auch der Mommsen wurde von seiner Schwester zur Familienfeier abgeholt und bekommt nicht mit, was sich in der Wohnung über ihm abspielt. Dass es die tatkräftige Irina (sie wohnt ja mit On-Off-Sebastian mittlerweile in der Wohnung vom Fitzke) während all diesem Krippen-Tohuwabohu auch noch schafft, russische Spezialitäten für den Heiligabend zu kochen, ist erstaunlich. Frau Dahlings Müffelchen hingegen sind bereits fertig. Aber wo bleibt Herr van Scherten? (Yetis wollen ja auch mal Abwechslung und nicht immer bloß Eisrübchen an Frostsalat …)

Die hermetische Raum- und Zeitkomposition sorgt für ein immer aufs Neue überraschendes In- und Miteinander der kleinen und großen Abenteuer in Ricos Welt und lassen den Eindruck entstehen, man wäre direkt ins Wunderland geraten (auch dort denken einige ständig nur ans Essen und andere immer nur ans Schlafen). Zumal auch die Ereignisse des zurück liegenden Sommers (Stichwort Schneekugel) Folgen hat und der illustren Hausgemeinschaft noch den Checker und Soo-Min hinzufügt – und mit ihnen das zentrale (religiöse) Motiv des Heiligabend: die Versöhnung.

„Integration: Wenn du wohin kommst, wo du dazugehören möchtest, und deshalb denen, die schon da sind, nachmachst, was sie dir vormachen. Plus, sie machen dir auch ein bisschen nach, was du ihnen vormacht, weil das spannend ist und ihre Kultur befruchtet. Zuletzt habt ihr beide was gelernt, zum Beispiel sportliche Gedichte über Basketball, Tauchen oder Ringen.“

Die multikulturelle Clique zu denen der Checker und Soo-Min gehören, hat sich für die kurzen Animationsfilme in der Sendung mit der Maus um Rico und Oskar gruppiert und steht im Mittelpunkt jener Kinder-Comic-Bände, die in der Nachfolge dieser Animationsfilme erschienen sind. Nun werden Nuri, Samira, Sarah, Soo-Min, der Lawotny und der Checker auch in die Romane eingeführt. Rico erinnert sich in drei erzählerischen Exkursen unter dem Titel Was im Sommer geschah zurück an das Kennenlernen, an sein Glück, neue Freunde gefunden, und seine Enttäuschung, sie zu Gunsten alter Freunde auch wieder verloren zu haben. (Jausenbrote, eine Schneekugel und die Bedeutung des Wortes Profilneurose spielen dabei eine nicht unbedeutende Rolle.) Aber die Yellow Brick Road des Lebens windet sich auf verschlungenen Wegen durch Berlin und endet manchmal auch in der Dieffe. Am Heiligabend. Und dreams really do come true – auch wenn gerade kein rainbow am Himmel steht. Auch kein Stern. Und die Sache mit dem Christbaum ist auch irgendwie schief gegangen.

Genschenke? Ach ja, aber eigentlich hat Rico durch die Ereignisse ganz darauf vergessen. Erst am Ende, als er – wie zu Beginn des Romans – an jenem Fenster der Wohnung steht, aus dem man über ganz Kreuzberg blicken kann, erinnert er sich. In den Armen hält er dabei erstmals seine kleine Schwester. Und während man gebannt auf Peter Schössows wunderbares Weihnachtsbild blickt, entschließt Rico sich, seine literarische Tagebuchform diesmal zu modulieren: Er erzählt von nur einem Tag, dem Heiligabend, dem ersten Tag im Leben seiner Schwester. Und er erzählt ihr davon. Frohe Weihnachten!

Heidi Lexe

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