Moritz 2017. € 24,00.

Anais Vaugelade: Ich bau mir einen großen Bruder.
Wie funktioniert unser Körper


Im März 2017 wurde „Das große Wissens-Sammelsurium“ zur Kröte des Monats gewählt. Ein Sachbuch, das auf Grund der außergewöhnlichen Themenzusammenstellung und dem Spiel mit der konventionellen Lexikon-Stilistik für Lust auf Wissen sorgte. Anregend war hier der kaleidoskopische Zugang, der die Welt erklärt. Bei Anais Vaugelades jüngster Publikation „Ich bau mir einen großen Bruder“ ist das nicht der Fall; es geht in die Tiefe. Wie ausdifferenziert der Sachbuchbereich für Kinder- und Jugendliche gegenwärtig aufgestellt ist, wird sichtbar, wenn man diese beiden aktuellen Sachbücher gegenüberstellt. Während das Wissens-Sammelsurium „Vom Seemannsknoten bis zum Sonnensystem“ berichtet, konzentriert sich das nun vorliegende Buch gemäß Untertitel auf die Frage „Wie unser Körper funktioniert“. Ein ambitioniertes Projekt, das mit dem einfachen Satz: „Heute baut sich Susa einen großen Bruder.“ beginnt. Neben der Unterscheidung zwischen einer Auseinandersetzung, die in die Tiefe oder in die Breite geht, liegt der zentrale Gegensatz in der hier gewählten Erzählform: es gibt Susa, es soll einen Bruder geben und somit eine Geschichte, die es zu erzählen gibt: Subjekt, Objekt, Narrativ würde die Germanistin/der Germanist festhalten. Sachbuchinteressierte Kinder- und Jugendliteraturfans fällt hingegen sofort auf, dass es sich hier um eine erzählende Sachbuchform handelt. Also kein klassisches Nebeneinander, sondern ein narratives Hintereinander von Informationen.

Zurück zu Susa. Dass wir die Erzählung mit einem kleinen, wahrscheinlich vier bis fünf Jahre alten Mädchen betreten, ist auf Grund der illustrierten Figur nicht nur besonders sympathisch, sondern auch äußerst praktisch. Wir finden uns in einem großen, weißen sowie leeren Raum wieder und beginnen ganz von vorne. Egal ob wir schon viel über die Anatomie und das Funktionieren des Körpers wissen oder nicht. Sobald uns in drei großen Sprechblasen im Querschnitt illustriert wird, warum Susa im Inneren mehr einem Krokodil ähnelt als einem Krebs oder einer Nacktschnecke, begeben wir uns gerne zurück an den Start und sind gespannt, wie diese Erzählung weitergeht und vor allem, welche Bilder dafür eingesetzt werden. Wer sich von Anfang an nicht mit einem scheinbar handwerklich begabten Kleinkind identifizieren möchte, findet vielleicht Anknüpfungspunkte in Form eines großen, grünen Krokodils samt „Enzyclopedia Crocodilis“ oder einem rot-gestiefelten Cowboy oder einem blauen Elefanten oder einer violetten Katze oder einem anderen Tier der Kinderzimmermannschaft, die sich Susa zur Unterstützung mitgenommen hat. Viele kleine Subjekte und ein großes Objekt. Für Figuration und Identifikation ist also gesorgt.

Wie sieht es aber mit der Erzählung aus? Welches Narrativ wird uns präsentiert? Im Vordergrund steht der Wunsch einen großen Bruder zu bauen, gefolgt von der Erkenntnis, dass dieses Vorhaben nicht so einfach zu bewerkstelligen ist, wie es anfänglich erschien. Das bereits fertiggestellte Skelett fällt in sich zusammen: „So fabriziert Susa ein Gelenkband“. Oder: Der bereits recht ansehnliche Körper mit Muskeln, Nerven, Augen, Ohren, Mund, Zunge, Nase, Haut und Gehirn wirkt eigentlich betriebsbereit und verleitet Susa zu einem ersten Test: „Aber ihr Bruder rührt sich nicht.“ […] „So fabriziert Susa Zähne, und einen Magen, und eine Leber und eine Blase und einen Darm“. Nach diesem ersten dramaturgischen und spannungsgeladenen Höhepunkt, der dem Bruder in Folge zwar allerlei Innereien besorgt, ist die Luft erzähltechnisch etwas draußen. Doch Langeweile stellt sich in diesem großformatigen Sachbuch trotz umfangreicher Information auf den rund 60 Seiten keineswegs ein.

Denn im Sachbuchbereich ist der Text, ob mit oder ohne sich durchziehender Erzählung, bekanntlich immer nur die halbe Miete. Anais Vaugelades illustratorische Umsetzung lädt Seite für Seite zum Staunen und Suchen ein. Der zuvor erwähnte, weiße Raum wird rasch mit Material ausgestattet, da der plüschige Bautrupp im Laufe der Zeit allerlei Utensilien ankarrt und so den unteren Bildrand farbkräftig befüllt und für eine wimmelbuchartige Szenerie sorgt. Aufgeräumt ist dagegen der nochmals darunterliegende Textraum, wo mit wenigen Zeilen Susas Vorhaben beschrieben wird. Abwechslungsreich und zugleich informativ sind aber vor allem die groß angelegten Sprechblasen der einzelnen Protagonist*innen, die in Dialog treten und mit Bild und Text für das Bauprojekt verantwortlich zeichnen. So wird in kurzen Comicstrips veranschaulicht, wie das Gehirn und die Sinne funktionieren, worin der Unterschied zwischen „Wachen und Schlafen“ liegt, wie es „Im Muskel“ aussieht oder wofür Melanin zuständig ist. Besonders gut gelungen sind sich wiederholende Doppelseiten, die die getane Arbeit zusammenfassen und so immer wieder für Überblick sorgen. Etwa kurz vor Schluss, wenn unter dem Titel „allgemein Überprüfung“ nochmals die Krokodil-Enzyklopädie zu Rate gezogen wird und auf einer ganzen Doppelseite ein circa 40 Zentimeter großes Krokodil (eigentlich Mensch) in all seinen Bestandteilen gezeigt wird.

Und dann kommt noch die Kultur ins Spiel. Als der große Bruder anatomisch perfekt ausgestattet und somit fertiggestellt und auch überprüft auf dem Boden liegt, schlägt das schlaue Krokodil noch einmal das Buch auf und sucht „nach Geschichten von fabrizierten Geschöpfen […], die lebendig wurden“. Fünf Methoden werden in Form von Informationskarten vorgeschlagen. Die Varianten des Zum-Leben-Erwecken reichen vom göttlichen Odem bis zu Geppettos Zauberstaub oder Rabbi Löws Buchstabenkombination auf der Golemstirn. Doch dann ist es ausgerechnet die kleine noch recht unbrauchbare (Zitat Susa!) kleine Schwester der Protagonistin, der es gelingt den großen Bruder aus dem Schlaf zu holen: Die Worte „Widu bielen?“ und zwei tollpatschige Hände auf der Stirn sorgen für den absoluten Höhepunkt der Erzählung und für völliges Entzückung bei den kleinen Bauherren sowie -damen, deren ausgelassene Reaktionen bildkräftig darauf verweisen, dass der Körper zwar biologisch erklärbar und dennoch ein faszinierendes Wunder ist.


Peter Rinnerthaler

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