des Monats STUBE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


avant-verlag 2017. € 20,00.

Nacha Vollenweider: Fußnoten


Die Kröte im Monat Juni zeichnete sich durch zwei Merkmale aus: 1. Flurin Jeckers Buch „Lanz“ war besonders „schweizerisch“ (Grammatik und Schauplatz) und 2. besonders zeitgemäß, was die formalen Aspekte betrifft (in Blogform gegossene Jugendsprache). Bereits zwei Monate später feiern wir abermals die Avantgarde der Schweizer Jugendliteratur. Denn auch Nacha Vollenweiders Buch „Fußnoten“ hat Schweiz-Bezug (dazu mehr, wenn über den Inhalt berichtet wird) und besticht durch die Individualität der Form. Der avant-verlag spricht im Paratext sogar von einem neuen Genre: dem „Comic-Essay“. Nun muss nicht geklärt werden, was man unter einem Comic versteht, (zum Glück wurde nicht der Begriff „Graphic Novel“ verwendet) noch bedarf es einer Einführung in die Textform Essay. Aber was bitteschön ist ein Comic-Essay? Ein Blick ins „Sachwörterbuch der Literatur“ (Gero von Wilpert, Kröner 2001) schadet vielleicht doch nicht:

Der Essay behandelt „eine aktuelle Frage des geistigen, kulturellen oder sozialen Lebens“. Dank dem „oder“ in diesem kurzen Auszug müsste Nacha Vollenweider in ihrem Debut nicht alle drei Domänen des Lebens abdecken, sie tut aber genau das und das äußerst pointiert. Während einer alltäglich gezeichneten Zugfahrt im Großraum Hamburg deckt sie bereits mit einem Satz die Trias geistig-kulturell-sozial ab: „Mir wird immer gesagt, dass ich zu Übertreibungen neige, aber ich denke, das Beste in Deutschland sind die Züge“. Klarerweise bleibt Vollenweider nicht bei dieser einen makrokulturellen Strukturanalyse stehen. Die Comic-Künstlerin fährt weiter und verwebt in einer kunstvollen sowie durch illustrierte Fußnoten verbundenen Autobiographie Vergangenheit mit Gegenwart, Zeitgeschichte mit Familiengeschichte, Argentinien mit Deutschland, Buenos Aires mit Hamburg, Migrationsgeschichte mit Migrationsgeschichte. Diese Verbindungen werden einerseits bildhaft umgesetzt, wenn über den Worten „‘La niebla del riachuelo‘ am Berliner Tor, ein berühmter Tango. Wortwörtlich übersetzt. Der Nebel am Fluss.“ Gleisstränge in einer verschmierten, grauen Nebelbank verschwinden und nur kleine Silhouetten am Bahnsteig auszumachen sind. Andererseits historisch parallelisiert, wenn Deutschlands Asylpolitik im Jahr 2015 mit der eigenen Familiengeschichte zusammengeführt wird: „Das erinnert mich an meine Omas. Die waren beide Kriegsflüchtlinge als Kinder“, hält Vollenweiders Partnerin fest, als sie ein am Hamburger Bahnhof eingerichtetes Erstversorgungszentrum für Flüchtlinge durchqueren. Die Ich-Erzählerin ergänzt: „Mein Ururgroßvater verwaltete eine Kolonie in Argentinien. Dort lebten Schweizer, die vor der Hungersnot in Europa geflohen waren.“ Dieses Panel trägt die Fußnote sechs und verweist auf das letzte Kapitel, in dem der Ururgroßvater samt Porträt und Familienwappen eingeführt wird, um schließlich die Recherche in einem Vollenweider-Familientreffen und der Erkenntnis: „Als ich zurück nach Hamburg fuhr, hatte ich das Gefühl, die Geschichte meiner Familie besser zu verstehen“ gipfeln zu lassen.

Doch nicht nur das behandelte Thema macht einen Essay zum Essay. Laut Gero von Wilpert ist dieser „in leicht zugänglicher, doch künstlerisch wie bildungsmäßig anspruchsvoller, geistreicher und ästhetisch befriedigender Form“ ausgeführt. All das trifft für „Fußnoten“ voll und ganz zu. Die Formulierung „ästhetisch befriedigende Form“ ist jedoch eine Beleidigung für Vollenweiders klaren Stil, der mit Bildformaten, Framework, Perspektiven, (Be-)Schrift(-ungen) oder auch mit Allegorien kunstvoll und dennoch unaufgeregt arbeitet. Ein eindrückliches Beispiel ist die assoziative Gegenüberstellung der Sitzpolster-musterung der Deutschen Bahn mit dem Grundriss argentinischer Städte, die beide ein starres, quadratisches Muster aufweisen und in zwei querformatigen Panels gegenübergestellt werden. Dieses breite an Fotos erinnernde Format prägt den Comic, der in Schwarz-Weiß gehalten ist und so einen zeitgenössischen Stil erzeugt, der Distanz zur Ich-Erzählerin zulässt, dokumentarisch erzählt und sich damit in eine illustre Runde aktueller Publikationen einreiht, die gerne als „Dokumentarische Graphic Novels“ bezeichnet werden.

Essayistisch ist auch der geschärfte Blick für den alltäglichen Moment, der Nacha Vollenweider als eine Art Archäologin der Gegenwart auszeichnet. Als Beispiel darf ein Dialog während der Zugfahrt genannt werden, in dem sich zwei US-amerikanische Tourist*innen über „houses where the poor germans live“ unterhalten und Schrebergärten mit mexikanischen Favelas vergleichen. Von Wilpert würde wohl von einem „anregend lockerem, doch geschliffenem, teils aphoristischem, ironischen, pointiertem oder paradoxen Stil“ sprechen und bei Sätzen wie „Deswegen fahre ich so gerne Zug. Ich fühle mich dann wie in Babylon.“ würde von Wilpert beglückt anmerken, dass der (Comic-)Essay mit „eleganter Leichtigkeit mit einprägsam, originellen Formulierungen“ überzeugt. Recht hat er!


Peter Rinnerthaler

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