Kröte des Monats Mai
2017
Aus dem Niederl. v. Andrea Kluitmann.
Carlsen 2017. € 15,99.
Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht
Es ist, als ob man ein überlebensgroßes Kino betritt.
So fühlt es sich für Emilia an, als sie in New York City ankommt. Wer selbst einmal zur Rush Hour nach New York eingefahren ist, kennt dieses Gefühl, das vermittelt, dass die ganze Welt einem*einer offensteht. In diesem Sinn ist auch das Motto des Buches zu verstehen, dass Anna Woltz ihrem aktuellen Roman vorangestellt hat. Es ist die US-amerikanische Unabhängigkeits-erklärung, die alle Menschen als gleich ansieht und das Streben nach Glück verankert hat.
Emilia Dezember de Wit, vierzehn Jahre alt, penibel hygienisch und Panikattacken-erfahren, kommt nach New York, um neu zu beginnen und ihr Glück zu finden. Denn ihr Vater hat sich in eine Schülerin verliebt und ist aufgeflogen. 67 peinliche SMS wurden öffentlich zugänglich und ein Shitstorm bricht über die ganze Familie herein. Emilias Mutter, eine international anerkannte Künstlerin, hat dazu noch keine Stellung bezogen. Emilia fühlt sich alleingelassen und will nur noch weg. Sie klaut die Kredit-karte ihres Vaters, bucht eine Unterkunft über eine Online-Plattform, legt sich eine glaubwürdige Geschichte zurecht und nimmt Reißaus. In New York läuft natürlich alles schief: ihr Appartement wird nicht vermietet und zu allem Übel ist Orkan Sandy im Anmarsch (der fegte 2012 tatsächlich über die Stadt). Zum Glück trifft Emilia die Geschwister Seth und Abby, und Jim, mit dem sie zusammen die Sturmtage übersteht; komplett mit Tageslicht-Stunden zählen und Trinkwasser rationieren und Kerzenlicht.
„Hundert Stunden Nacht“ ist ein Roman, der es schafft, gängige Motive der Jugendliteratur so einzusetzen, dass sie bemerkenswert passend erscheinen. Wie schon in „Gips“ das Schneechaos, ist das ungestüme Wetter in „Hundert Stunden Nacht“ das Symbol für eine innere Aufruhr, aber gleichzeitig die formale Möglichkeit, Schritt für Schritt davon zu erzählen, wie Wunden langsam heilen, Beziehungen und Glücksmomente entstehen können und wie das Sprechen über Ängste selbige ein Stück weit schwinden lässt. Durch den Stromausfall wird die zuerst so quirlige Szenerie New Yorks stark verlangsamt und auch die Ich-Erzählung, die in der Gegenwart gehalten wird, lässt die Leser*innen den Entwicklungsprozess des Mädchens nachvollziehbar mitverfolgen.
Sympathisch ausgestaltete Figuren und witzige Dialoge sind ebenso gelungen, wie der Umstand, dass er auch als Reiseführer dienlich sein kann: die besten Steckdosen der Stadt zum Aufladen des Handy-Akkus finden sich in der Buchhandlung Barnes & Noble auf der Fifth Avenue, zwischen der Fünfund-vierzigsten und der Sechsundvierzigsten Straße. Komplett mit Starbucks, wo man Muffins und Kaffee kaufen kann. Gutes WLAN. Die Toiletten sind umsonst und es gibt einen speziellen Wasserhahn, aus dem man trinken kann. Genug Bücher für Jahre. Wärme.
Jana Sommeregger
Anna Woltz ist DIE Autorin im Monat Mai. Neben der Kröte des Monats erhält sie am 11. Mai den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2017 für ihren Roman "Gips". Anlässlich des 70-Jahr-Jubiliäums der STUBE findet die Preisverleihung erstmalig in Wien statt. Alle weiteren Informationen zum Festakt sind >>>hier versammelt.
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