Kröte des Monats Oktober 2016
Carlsen 2016. 112 Seiten. € 14,40.
Tamara Bach: Vierzehn
Du liest den neuen Roman von Tamara Bach. Und denkst Dir, wie außergewöhnlich. Wie außergewöhnlich, dass hier einmal mehr nach der genau richtigen Form für genau jenen Lebens-Moment gesucht wird, in der die Protagonistin steht. Es ist ein seltsam geheimnisvolles Dazwischen von dem hier erzählt wird. Zwischen einem Außen, über das nicht selbst entschieden werden kann. Und einem Innen, das wohlig erscheint, aber noch unbestimmt ist. Es lässt sich nicht in Worte fassen und verdichtet sich am ehesten in der Frage: Warum eigentlich Elefanten?
Vielleicht weil Elenfanten in ihrer Präsenz den Kontrast zum leeren Raum verbildlichen. Zum Raum, der einmal belebt war und jetzt verlassen daliegt. Zum leeren Raum, in dem sich im Danach noch die Spuren des Davor zeigen. Solche Leerstellen stehen im Mittelpunkt des neuen Projektes im Kunstgeschichteunterricht. Und aus solchen Leerstellen eines jugendlichen Daseins heraus (und in sie hinein) erzählt Tamara Bach.
Auch der Text selbst hat solche Leerstellen, stellst Du fest. Er scheint vorerst überhaupt nur aus Leerstellen zu bestehen, wird Dir bewusst, während Du mit der Mädchenfigur aufwachst und Schritt für Schritt in den Tag gehst. Du begleitest sie, findest dich ein in ihrem Leben, in das sie selbst erst zurückfinden muss. Denn sie hat – wie sich in Andeutungen, Gedanken- und Erinnerungssplittern zeigt – den Boden ihres gewohnten sozialen Umfeldes unter den Füßen verloren. Nun, vielleicht nicht wirklich verloren, doch es wurde ordentlich daran geruckelt und gezogen. Die letzten Schulwochen hat sie schwerkrank im Bett verbracht („Pfeiffer’sches. Drüsenfieber sagst du gar nicht mehr, weil Drüse eklig klingt. Nach Eiter.“) und die Klassenfahrt nach Polen versäumt. Die Codes, mit denen sich die Freundinnen nun, am ersten Schultag, darüber verständigen, sind für sie nicht dechiffrierbar. Zumal sie nach Krankheit und Klassenfahrt, also während der Sommerferien, von den anderen einfach vergessen wurde und nun wortlos, sprachlos auf die Leerstelle zwischen ihr und den Emmas, Hannah und Jeanette trifft. Dafür taucht eine neue auf, Maxima, die neben sie gesetzt wird, die am Schulimbiss Parmesan auf ihre Pommes will, ganz nebenbei eine großartige Zeichnung aufs Papier bannt und den Ethikunterricht besucht. Jenen Ethikunterricht, der auf Grund der Beteiligung daran nicht eben aus den Nähten platzt und in den sich die Erkenntnis einflicht, dass die eigenen Freiheiten durch jene der anderen ihre Begrenzung finden. Wieder Gedankensplitter. Ohne vordergründige Gewichtigkeit in den minimalistisch angelegten Text gesetzt während ein Fläschchen türkisblauer Nagellack ähnlich weitgreifende Wirkung entfaltet („Du startest einen Trend und weißt es nicht mal.“).
Du durchlebst mit der Mädchenfigur die Unterrichtseinheiten eines Schultages, folgst der Gleichzeitigkeit der äußeren Trägheit schulischen Alltags und innerer Wendigkeit, mit der sie den didaktischen Volten der Unterrichtenden folgt. (Und du denkst: Wow, selten hat Schule in all ihren Bedeutungsebenen einen so hohen Stellenwert in einem jugendliterarischen Text erhalten.) Du beginnst diese Gleichzeitigkeiten immer mehr zu genießen, entdeckst immer mehr solcher zeichenhaft gesetzter Kontrastierungen. Ein 55 Kilo Pitbull an der Leine eines mit Sicherheit weniger gewichtigen Mädchens, das sich den Zumutungen des Lebens an sich stellt:
Ja, Schule hat wieder angefangen.
„Und, wie fühlt man sich mit vierzehn?“, fragt sie, erwartet aber keine Antwort.
Sagt, dass du ja jetzt strafmündig bist und dann wohl deine Mafiaaktivitäten und den Waffenhandel aufgeben musst.
Du lachst immer noch nicht.
Aber: „Danke, dass du den Hund ausführst.“ (S. 72)
Im Schneckentempo scheint man an einem Spätsommertag mit einem solchen Riesentier an der Leine voranzukommen. Um dann eine emotionale Dynamisierung zu erfahren, auf die man gut und gerne verzichtet hätte: Du folgst einer plötzlichen Idee der Mädchenfigur, die sich äußerlich gestärkt durch den Kampfhund auf eine Wieder-Begegnung einlässt. Wieder eine Leerstelle. Die neue Wohnung des Vaters, die noch unberührt und weiß ist, in der es aber dennoch bereits ein „Tatsachenzimmer“ gibt, ein Zimmer das Tatsachen schafft. Ein Blaubartzimmer, ein blaues Zimmer, ein Zimmer, in dem Umzugskisten stehen, „die dein Vater nicht bei euch gepackt hat“.
„Wann?“ Du drehst dich zu ihm, hast deine Hand im Nacken des Hundes und kraulst, schiebst seine Haut, sein Fell hin und her, wann also?
„Im Januar ist Termin“, sagt dein Vater.
Das ist in vier Monaten. Vier von neun. (S. 80)
Die Leerstelle wird zu einem Trümmerfeld. Einem Trümmerfeld, das sich später im Teller mit dem Abendessen spiegelt, während die Mutter am Balkon steht und raucht und weint und mit der Freundin telefoniert, nachdem sie und ihr Ex die Tochter mit den Trümmern ihres Ehelebens zurückgelassen haben.
Aber Tamara Bach lässt ihre Figur niemals alleine in solchen Trümmerfeldern zurück. Und dafür liebst Du ihre Romane. Das hast Du schon getan, als Miriam und Phillip zu girl from mars aus dem Club gekehrt wurden; das hast Du getan, als Bowie und Mono und Zanker und Fienchen aus zwei und zwei vier gemacht haben; das hast Du getan, als Louana an Josie Ansichtskarten aus Abenteuerland geschickt hat. Und Du tust es auch diesmal wieder, denn da sind diese Elefanten, die im leeren Raum stehen und das Glück verheißen.
Und am Ende dieses einen Tages, in dem Tamara Bach das Leben eines Mädchens verdichtet, das gerade vierzehn geworden ist und von deren schrecklichem Namen Du wenig erfährst, steht nicht die Verzweiflung, sondern jenes Geheimnis, das wie ein Pflaster auf einer Wunde klebt. Jenes Geheimnis, von dem nur jenes Mädchen weiß, das Tamara Bach zum Du ihres Romans macht. Sie folgt diesem Du mit Elementen des Bewusstseinsstroms und hält dennoch Distanz. Schafft eine Leerstelle, die du als Leserin mit genau jener Intensität füllen kannst, die dir angemessen erscheint.
Vanilleeis, denkst Du.
Heidi Lexe
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