Kröte des Monats April
2015
45,20 Euro
284 S.
Coppenrath 2014.
Die Bibel. Erzählt von Philippe Lechermeier. Ill. v. Rébecca Dautremer.
Eine Bibel, die nicht aussieht wie eine Bibel, und auch keine sein will.
Nicht aussieht wie eine Bibel
Auf dem Cover ein indianisch wirkendes Mädchen. Die Illustrationen der weltweit anerkannten französischen Künstlerin Rebécca Dautremer sind ganz anders als traditionelle Bibelbilder: nichts Orientalisierendes, nichts Historisierend-Realistisches, nichts Fromm-Didaktisches.
Keine Bibel sein will
Der Autor Philippe Lechermeier sieht die Bibel als Gemeingut, das nicht nur einer Religion vorbehalten ist. Er macht sich an eine Neuerzählung, weil er davon überzeugt ist, das die Bibel aus Geschichten – aus Tausenden von Erzählungen, Mythen, Märchen und Legenden – besteht, die über Jahrtausende von Generation zu Generation weitergegeben und immer neu entdeckt wurden, aus Geschichten, die auch „uns“ etwas angehen, weil sie auch „von uns erzählen“. Egal ob man gläubig ist oder nicht, die biblischen Leitbilder prägen unsere Gesellschaft, kreisen in unserem Unbewussten. „Wie soll man die Welt verstehen, wenn man die Bibel nicht gelesen hat und nicht weiß, wer Abraham ist oder Goliat, die Königin von Saba oder Maria Magdalena. Wie soll man die Kunst entziffern, die Architektur, die Literatur, ohne das mythische Fundament unserer Gesellschaft zu kennen? (S. 7).
Lechermeier schreibt: „Diese Bibel ist nicht die Bibel“ – Damit ist ein Dreifaches gesagt: (a) Es geht nicht um eine Förderung des persönlichen Glaubens im Kontext jüdischer oder christlicher Glaubensgemeinschaften, sondern um die Erschließung einer zentralen kulturellen Wurzel Europas. (b) Lechermeier hält sich nicht an den biblischen Kanon, sondern er wählt aus der Fülle der biblischen Texte aus, schafft durch seine Anordnung neue Zusammenhänge. Am Ende des Alten Testaments steht etwa ein so genanntes „Buch des Exils“, das mit Ijob schließt. Manches ergänzt der Autor aus apokryphen Schriften. Der neutestamentliche Teil setzt sich ausschließlich mit den Evangelien und dem Leben Jesu auseinander, die zu einer chronologischen Erzählung verschmolzen werden. Die – durchaus narrative – Apostelgeschichte, in der es primär um die Kirche geht, fehlt. Die – für Nacherzählung wenig geeignete – Briefliteratur des Neuen Testamentes sowieso. (c) Lechermeier lädt ausdrücklich zur subjektiven Aneignung ein: „Ich wünsche mir, dass jeder Leser sich aus meiner Nacherzählung das mitnehmen kann, was für ihn wichtig ist. (S. 7)
poetische Vielfalt
Es gibt in dieser Bibel Erzählungen, Berichte, Dramen, vielstrophige Gesänge oder schlichte lyrische Texte – immer von starker und faszinierender Ausdruckskraft: Die Entstehung der Welt oder der Bruderkonflikt zwischen Kain und Abel sind als Gedicht gestaltet. Die Geschichte von Adam & Eva als einfühlsame Erzählung – „Sie beobachteten sich erstaunt, denn sie ähnelten sich sehr und waren doch verschieden. Sie ließen ihre Augen über den Körper des anderen wandern. Adam betrachtete die Frau und die Frau betrachtete Adam. Langsam, ohne Scham, ohne Verlegenheit. Und so blieb es lange Zeit.“ (S. 24) Inhaltliche Akzent werden mitunter graphisch deutlich verstärkt. So nehmen die beiden Sätze nach dem Sündenfall „Und wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Die Frau deutete auf Adam.“ eine komplette Seite ein.
Der Turmbau zu Babel ist in Dialogform gehalten; in der Geschichte von Jakob & Rahel wird das rhetorische Stilmitel der Anapher eingesetzt: Jeder der 50 Sätze beginnt mit dem Wort „Und“. Die „Träume des Josef“ werden als Theaterstück in drei Akten mit Chor dargeboten, der Auszug aus Ägypten in Form von sechs „Gesängen der kleinen Mücke“ nahegebracht. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Anzumerken ist aber: Diese Vielfalt der literarischen Gattungen entspricht jener im biblischen Original.
Die Sprache ist durchgängig lebensnah, sie lädt zur Lektüre ein, die Texte sind – sicher auch für Jugendliche – spannend zu lesen. Es sind poetische Texte, die zu Herzen gehen. Man kann sie durchaus als Gesamtkunstwerk bezeichnen, das völlig neue und unerwartete Sichtweisen auf die Heilige Schrift eröffnet. Man sollte aber im Blick haben, dass man durch die Augen der Künstler schaut. Manches ist auch befremdlich, etwa, dass nicht ein „Engel“ die Botschaft an Maria verkündet, sondern ein „Vogelmensch“.
Die Bilder!
Eigenwillig und voller Überraschungen sind auch die Bilder. Sie sind im Grunde ein zweites Gesamtkunstwerk, denn sie illustrieren nicht einfach den Text, sondern begleiten ihn eigenständig. Meist großformatig, eine ganze oder auch zwei Seiten ausfüllend, lässt sich nicht jedes Bild auf dem ersten Blick dem Text zuordnen. Anspruchsvoll und tiefgründig verarbeitet Rebécca Dautremer Aspekte der biblischen Geschichten. Den Garten Eden färbt sie in knalliges Grün, den Nil in blutiges Rot. Mit filigranen Schwarz-weiß-Zeichnungen werden Persönlichkeiten feinfühlig charakterisiert. Dabei verwendet sie immer wieder originelle Ideen und ungewöhnliche Perspektiven. Manches wie der indianisch aussehende Vogelmensch wirkt fremdartig. Nicht wenige Darstellungen sind abgründig und gruselig. Manche prüde Zeitgenossen werden vielleicht an der Nacktheit Adams und Evas Anstoß nehmen (aber im Paradies gab es – per definitionem – noch keine Schamhaare).
Die Bilder machen neugierig. Sie laden ein, in sie einzutauchen, und wer dieser Einladung folgt, wird eine Fülle an Details entdecken. Oft bringen sie die Geschichte drastisch nahe: Das bedrohliche Doppelporträt von Kain und Abel (in Großformat über zwei Seiten), oder die geniale Idee, den Turm zu Babel nicht im Hochformat auf eine Seite zu setzen, sondern im Querformat über zwei Seiten. Dem Betrachter förmlich ins Gesicht springt der – dreimal krähenden – Hahn, dessen blutig roter Kopf und Kamm eine ganze Seite ausfüllt. Beeindruckend ist, dass dem Kreuzestod Jesu acht reine Bildseiten folgen.
Die Bilder suggerieren nicht, dass es sich um vertraute Geschichten handelt. Trotz aller existentiellen Anknüpfungspunkte wahren sie die Distanz und die Fremdheit der biblischen Inhalte.
Eine Bibel für Jugendliche und kulturell interessierte Erwachsene, die Freude an literarischer Vielfalt und abwechslungsreichen, phantasievollen und tiefgründigen Bildern haben. Ein Buch, das vielleicht auch auf das Original neugierig macht.
Erhard Lesacher, THEOLOGISCHE KURSE
Mag. Erhard Lesacher ist Leiter der Theologischen Kurse, einer Partnereinrichtung der STUBE innerhalb der Erzdiözese Wien und der Bischofskonferenz. Alle Mitarbeiter*innen der STUBE haben bei ihm und seinem Team ihre theologische Ausbildung absolviert. Und sich dabei von jenem Leitsatz anstecken lassen, den Erhard Lesacher auf der Homepage der Theologischen Kurse formuliert:
Ich möchte bei den Theologischen Kursen mit meiner Begeisterung an (systematischer) Theologie anstecken und möglichst vielen Menschen eine Begegnung mit den „Glutkernen" des christlichen Glaubens ermöglichen.
Eine Begegnung, die auch durch Bücher wie jenes von Philippe Lechermeier und Rébecca Dautremer gestärkt wird. Die Rezension ist der erste Gastbeitrag, den Erhard Lesacher für die STUBE verfasst hat.
Mit dieser besonderen Buchempfehlung wünscht das Team der STUBE gesegnete Ostern!
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