Kröte des Monats Dezember 2014
Die langjährige Jugendbuchlektorin im Verlag Carlsen, Barbara König, hat in diesem Herbst erstmals ein eigenes Programm präsentiert. Jedes Buch ist in edler Aufmachung in einem je eigenen Format gestaltet – dem neuen Verlagsnamen "Königskinder" entsprechend mit viel Ornament und Golddruck.
Im Folgenden heißt das STUBE-Team diese Königskinder willkommen und stellt einige von Ihnen vor:
Ill. v. Peter Schössow.
Königskinder 2014.
200 S., € 17,40.
Andras Steinhöfel: Anders
Nach dem schier unglaublichen Erfolg der Kinderromane rund um Rico und Oskar, der mit der ersten (in diesen Tagen auch auf DVD erscheinenden) Verfilmung einen weiteren Höhepunkt erlangt hat, stellt ein erster „Nachfolgeroman“ für Andreas Steinhöfel natürlich eine besondere Herausforderung dar. Doch der 2013 für sein Lebenswerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnete Autor meistert sie souverän, indem er von Sujet, Topografie und Erzählton der Rico-Serie deutlich abweicht und auf Erzähltraditionen seiner frühen Kinderromane zurückgreift: Mit viel Lust an kleinen Bösartigkeiten wirft er den Blick auf das bürgerliche, kleingeistige Milieu jener Ulmenstraße, die einst von den Schröders aufgemischt wurde. Paul (Vier), so erfahren wir, ist nun allerdings erwachsen und lebt in Berlin. Dafür rückt Felix in den Mittelpunkt, ein von seinen Helikoptereltern umkreistes Kind mit ausbaufähigem Selbstwertgefühl. Sein Schicksal teilt den Roman in ein Davor und ein Danach – wobei die in den jeweiligen Zeiträumen stattfindenden Ereignisse einander bedingen. Denn nachdem Felix von seinen überfürsorglichen Eltern ins Koma befördert wurde, wacht er Monate später als völlig verändertes Kind auf: Das Farbfernsehen schmerzt in seinen Augen; dafür kann er in seiner nunmehrigen Hypersensibilität an anderen Menschen nicht nur Farben, sondern auch deren emotionalen und sogar gesundheitlichen Zustand erkennen. Andreas Steinhöfel etabliert eine fast klassisch-tragisch wirkenden Einheit von Ort, Zeit und Figuren, wenn er unterschiedlichen (erwachsenen) Perspektiven folgt – dabei aber immer (den kindlichen) Anders selbst in den Mittelpunkt stellt. Dem Vater zum Beispiel erscheint der wieder erwachte Sohn wie eine Festung, die es zu knacken gilt – sogar wortwörtlich, denn eine passwortgeschützte Datei könnte Aufklärung über jenes Geheimnis geben, dass vor dem Unfall zu veritablen Irritationen geführt hat. Eine Fülle an Textsorten greifen dabei ineinander, eine Fülle an Motiven sorgen für zeichenhaft angereichertes Geschehen, das einer aus Zeit und Raum gefallenen Figur bei ihrem Versuch der Neuverortung zeigt.
Heidi Lexe
Aus dem Engl. v. Herzke, Ingo.
Illustriert von O'Brien, Gregory.
Königskinder 2014.
136 S., € 14,30.
Kate de Goldi: Die Anarchie der Buchstaben
Die wöchentlichen Besuche der 9-jährigen Perry bei ihrer Oma sind immer eine Überraschung – diese leidet nämlich an Demenz und erkennt ihre Enkelin zumeist nicht. Perry weiß allerdings, das nicht persönlich zu nehmen, und startet ein ACB-Buch-Projekt, in das nur Worte kommen, die in Verbindung mit dem Altersheim stehen und auch das dort vorherrschende Durcheinander widerspiegeln. Die Selbstverständlichkeit, mit der das kleine Mädchen mit den Eigenheiten der Bewohner*innen umgeht, – auch im Kontrast zu den Schwierigkeiten, denen es ihren Eltern bereitet – ist erfrischend und es zeichnet Charaktere nicht als Pflegefälle, sondern Menschen mit individuellen Stärken. Mit charmanten, zum ACB versehenen Illustrationen ist der Roman eine kurzweilige und wichtige Lektüre, die ganz nebenbei auch noch den Wortschatz fördert.
Katharina Portugal
Aus dem Engl. Birgit Schmitz.
Königskinder 2014.
256 S., € 16,40.
Dianne Touchell: Zwischen zwei Fenstern
„Es waren zwei Königskinder / die hatten einander so lieb / sie konnten nicht kommen / das Wasser war viel zu tief.“ Viel Interpretationsleistung braucht es gar nicht, um einen Bezug zwischen der Volksballade „Die Königskinder“ und Dianne Touchells Jugendroman „Zwischen zwei Fenstern“ herzustellen. Ersetzt man den tiefen See mit dem Raum zwischen den beiden Fenstern der Ich-Erzählerin und des Ich-Erzählers, erhält man eine vergleichbare Situation sowie das zentrale Motiv des Romans und der Ballade: die unüberwindbare Distanz zwischen zwei aufeinander bezogenen Figuren. In der Ballade sind am Ende (Achtung: Spoiler) „alle beide tot“. Dass der Roman ebenfalls keine konventionelle „Mädchen-und-Junge-von-nebenan-Geschichte-wird“ erfährt der/die Leser*in bereits auf der ersten Seite. Creepy, so nennt Maud ihren nachbarlichen Antagonisten, beschreibt im ersten Satz, wie sehr das familiäre Gefüge aus dem Ruder läuft: „Dad hat unserem Hund, Dobie Squires, beigebracht, Mum zu beißen.“ Auch die Beziehung zwischen den beiden Jugendlichen beginnt alles andere als romantisch. Er beobachtet sie mit einem Fernrohr, als sie sich die Haare ausreißt ... Die abwechselnden Blickwinkel auf das Leben des anderen und auf sich selbst zeugen davon, dass Maud als auch Creepy das Gegenteil eines Königskindes im wortwörtlichen Sinne repräsentieren: Anstelle von Privilegien treten Schulverweis, Medikamentierung, Selbstverletzung und Identitätskrise.
Ein tristes Bild über das Schlachtfeld Familie und zugleich ein Text über zwei Jugendliche, der jenseits der klassisch gestrickten Dramaturgie komponiert wurde. Auf das austauschbare Wiederholen des Auseinandertriftens und Wiederzueinanderfindens wird in „Zwischen zwei Fenstern“ verzichtet. Dianne Touchell zeichnet eine hervorragend langsame Annäherung, die Maud und Creepys Geschichte in den Status „Königskinder“ erhebt.
Peter Rinnerthaler
Aus dem Engl. v. Annika Ernst.
Königskinder 2014.
320 S., € 16,40.
Tracy Holczer: Löffelglück
In die österreichische Kinderliteratur hat sich die Geschichte von Sadako und ihrem Glauben, gesund werden zu können, wenn ihr gelingt, tausend Kraniche zu falten, durch Karl Bruckners "Sadako will leben" eingeschrieben. Auch im Debutroman der amerikanischen Autorin Tracy Holczer sind diese Origami-Kraniche eines der wichtigen Motive - hier jedoch stehen sie nicht für die erwünschte Zukunft, sondern vielmehr für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die hart erarbeitet werden muss. Die zwölfjährige Ich-Erzählerin Grace hat mit ihrer Mutter, die wegen ihrer Schwangerschaft mit Grace von ihrer eigenen Mutter rausgeschmissen wurde, an vielen verschiedenen Orten gelebt und konnte nirgendwo wirklich Wurzeln schlagen. Als sie nach dem plötzlichen Tod der Mutter plötzlich bei ausgerechnet jener Großmutter, ihrer einzigen lebenden Verwandten, bleiben soll, die an ihrem rastlosen Leben schuld war, ist sie außer sich und setzt alles daran, die Großmutter so ablehnend zu behandeln, wie sie es verdient. Es braucht nicht nur jede Menge Kraniche, sondern ein spezielles Stück Unterwäsche, wärmende Suppe, einen Sarkophag für eine quirlige Mumie und sogar die Geburt eines Fohlens, bis Grace sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinandergesetzt und erkannt hat, dass vielleicht genau dieser Ort endlich jener sein könnte, an dem sie zuhause ist.
Kathrin Wexberg
Aus dem Engl. v. Ingo Herzke.
Königskinder 2014.
320 S., € 17,40.
Vince Vawter: Wörter auf Papier
„Man könnte sagen, Maschine schreiben ist gemogelt, aber ich muss die Wörter auf Papier sehen, damit ich sicher sein kann, alles ist so passiert, wie sich mein Gehirn erinnert. Ich traue Wörtern auf Papier viel mehr als Wörtern in der Luft.“ 1959 in Memphis ist und bleibt es für einen stotternden Jungen schwer, sich zu artikulieren. Zeiten, in denen Logopädie noch in den Kinderschuhen steckte und man nicht wusste, wie mit dem gravierenden Sprechproblem umzugehen ist, ist der elfjährige Ich-Erzähler zwar oft mit Wohlwollen, aber oft auch mit Isolation und einem sehr begrenzten Handlungsraum konfrontiert. Also schreibt er die Geschichte jenes Sommers auf einer Schreibmaschine nieder und skizziert damit auch ein Sittenbild der späten 1950er Jahre in Amerika. Es ist in Figuren präsent, die in das Leben des Jungen treten, als er für einen Monat das Zeitungsaustragen übernimmt. Seine strukturbildende Tour durch die Nachbarschaft ist zugleich eine Tour durch Exempel der gesellschaftlichen Probleme jener Zeit: Veteran Mr Spiro, mit dem jeder Dialog einer Zeremonie gleicht; die traurige Hausfrau Mrs Worthington oder Haushälterin Mam, die zum Opfer des Rassismus wird, begegnen dem weitgehend schweigenden Jungen auf ihre je eigene Weise und fordern ihn zu Handlungen heraus, die wie der Kraftakt der Sprechens nur mit viel Mühe bewältigt werden können. Die Erzählperspektive ist glaubhaft und tiefgründig: Während die Artikulation nach außen schwer fällt, zeigt sich der Junge in seinem Text als reflektierter Beobachter. Wie in seinem Sprechakt fühlt er alle Aktionen vor, wägt sorgfältig ab, probiert Möglichkeiten aus und tritt zögernd aber doch auf die Menschen zu. So wird er zum Souverän dieses Mikrokosmos und findet schlussendlich eine Art Stimme und einen Namen, der im Roman erst genannt wird, als er ihn selbst frei aussprechen kann. Ein zurückhaltender Roman, der eindringlich zeigt, wie sich Stottern anfühlen kann und wie sehr Sprache und Sprachanwendung das Tor zur Welt verschlossen halten oder öffnen können.
Christina Ulm
Die gesammelten Kröten der letzten Monate und Jahre finden Sie im >>> Krötenarchiv
>>> hier geht es zu den Kröten 2014