Kröte des Monats November 2014
Hanser 2014.
64 S., € 15,40.
Jutta Richter / Aljoscha Blau: Abends will ich schlafen gehn. Ein Gutenachtbuch für alle, die nicht einschlafen können
Gutenachtbuch – das ist eine Bezeichnung, unter der sich am Buchmarkt eine Menge finden lässt, ein Großteil davon mit Blick auf eine unmittelbare Einsetzbarkeit im Sinne von „Kinder in den Schlaf begleiten“. Hier ist es anders: 14 an Anmut kaum zu übertreffende Engelbilder verleihen der 2003 erstmals erschienenen Geschichte von einem Kind und einem Mann, die nicht schlafen können, einen neuen bildlichen Rahmen. In fragiler Handschrift werden diese Engel am Beginn durch das berühmte und titelgebende Gutenachtgedicht eingeführt, das der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim und Clemens Brentano entstammt. Ihre dortige Positionierung rund um das lyrische Ich wird durch Gedichte von Jutta Richter in 14 konkret benannte Figurationen übergeführt: Der libellenflügelzarte Mitternachtsengel mag das bedrohliche Traumgetier zwar mit seinem Mondfaden zu umspinnen – doch an Schlaf ist ebenso wenig zu denken wie dort, wo die Gespensterengel sich in ihrer eigenen Traurigkeit beinahe auflösen, als würden sie vom Regen weggewaschen. Der martialische Nein-Engel zeigt es noch einmal an: Geschlafen wird hier nicht. In zartgliedriger Sprache werden die Tonalitäten der unterschiedlichen Engel ausgelotet und in den narrativen Kontext rund um die beiden Schlaflosen eingegliedert, die erst Ruhe finden, als sie einander „An einem großen stillen See“ (so der ursprüngliche Titel) die Angst vor der Dunkelheit nehmen. War es vor 11 Jahren Susanne Janssen, die mit ihren expressiven Illustrationen an die Engel herangezoomt hat, so ist es nun Aljoscha Blau, der ätherische Wesen ins Bild setzt – in einmal bestimmter, dann wieder ganz zurückgenommener Farbigkeit, stets aber als scheinbare Abgesandte der feinstofflichen Welt der Märchen und (modernen) Mythen. So nehmen die 14 Engel zwar nicht die Furcht vor der Nacht, aber führen hinein in ganz aus der Zeit gefallene Welt, an die sich zwei außergewöhnliche Künstler*innen sprachlich und illustratorisch annähern.
Heidi Lexe
Vier der im Buch gezeigten Engel werden im Folgenden genauer in den Blick genommen.
Die Taubenengel
Neben der Auseinandersetzung mit dem Tod (vgl. Kröte des Monats Oktober) hat auch die ambivalente Haltung der Wienerin/des Wieners zur Taube im öffentlichen Raum traditionelle Formen angenommen: Das Lied „Tauben vergiften im Park“, das von Franz Kreisler (1958) salonfähig gemacht wurde, aber aus der Feder von Gerhard Bronner stammen soll, schildert eine krude Frühlingsimpression: „der Frühling, der dringt bis ins innerste Mark - / beim Taubenvergiften im Park“. Das Musikprojekt Gustav bricht im Lied „Rettet die Wale“ (2004) fast 50 Jahre später eine Lanze für die „fliegenden Ratten“, wie sie pejorativ genannt werden: „Bittet selten um Verzeihung /und füttert Tauben im Park, [...]“ Wie man auch zur Familie der Columbidae (lat. für Taube) stehen mag, das Gurren als auch das tapsende Geräusch am Blechdach wird uns wohl ein Leben lang begleiten. Aljoscha Blaus Taubenillustration, die dem Gedicht „Die Taubenengel“ anbei gestellt wird, scheint diese tragende, lebensüberdauernde Rolle der Taube in Szene zu setzen: Zwei Stadttauben flankieren die Vorder- und die Rückseite des kleinen gelben Hauses, in dem das schlaflose Kind wohnt, und die Tiere überragen das Gebäude um ein Vielfaches. Eindringlich blickt die dominante Taube der Betrachterin/dem Betrachterin entgegen und bildet einen entschlossenen Kontrapunkt zum Kehrreim des Gedichts: „Dann trippeln sie hin, dann trippeln sie her / und rucken und gurren und machen / so lange Faxen, bis du sie siehst, / und dann musst du lachen!“ Aber auch Jutta Richter greift textimmanent das ambivalente Wesen der Taube auf. Dem lächerlich wirkenden Trippeln der Vögel, das deren Lebensberechtigung in Frage zu stellen scheint, steht das (sprachlich realisierte) Bild der weisen Taube gegenüber, die den Menschen (trotz Vergiftungsversuchen) überdauern wird: „Die Taubenengel sind immer zu zweit, / der Himmel möge sie schützen. / Sie trinken die Tränen, sie picken die Zeit, / sie wissen im Winter, es ist bald soweit, / der Frühling wohnt unter den Mützen.“
Peter Rinnerthaler
Der Engel der Langsamkeit
Jeder der vierzehn Engel hat seine ganz eigene Farb-Welt: Beim Engel der Langsamkeit eine eigenwillige, kaum einzuordnende Schattierung zwischen grau, braun und grün. Er fliegt nicht, dieser Engel, sondern sitzt ganz geruhsam auf einem Ast, traut vereint mit den Wesen, die er besonders beschützt, ist er doch „der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken.“ Von seinem spitzen, tief ins Gesicht gezogenen Hut hängen Gegenstände, die Assoziationen wecken: Eine Muschel, ähnlich jener der Pilger am Jakobsweg, ein Schneckenhaus, eine Taschenuhr, die jene des immer gehetzten Hasen aus „Alice im Wunderland“ sein könnte – ob sie überhaupt funktioniert? Er ist übrigens der einzige der vierzehn Engel, der eine Doppelseite ganz für sich hat: Zuerst sehen wir das Bild, erst auf der nächsten Doppelseite folgt der Text (wie alle Gedichte ganz in jener Farbe gesetzt, die auch das dazu gehörende Bild dominiert). Der schmale Baum ganz am Seitenrand wirkt fast wie eine Vignette, erst bei längerer Betrachtung kommt man auf die Idee, dass auch er noch ein gleichsam nachgereichter Teil des Engel-Bildes sein könnte – und also auch beim Entschlüsseln von Bildern und Texten die Gabe der Langsamkeit gefragt ist.
Kathrin Wexberg
Der Brennesselengel
„Der Brennesselengel geht immer voran, / wenn wir den Weg uns brechen / durch Disteln und Brombeerrankengestrüpp. / Er biegt mit den Händen die Nesseln zurück, / damit sie nicht brennen und stechen.“ Wenn der Brennesselengel die Hand einladend ausstreckt, damit das Kind seinen Weg durch die spätsommerliche Wildnis geht, dann scheint er einer jener Engel zu sein, denen Gott in Psalm 91,11 befiehlt, „dich zu behüten auf all deinen Wegen.“ Während der Weg im biblischen Text aber über Steine führt, über Löwen und Nattern und Drachen, wählt Jutta Richter einen deutlich an den kindlichen Erfahrungshorizont angelehnten Raum: Es sind Bienen und Hornissen, Scherben und Spinnen, die der im grünen Laub aufgehende Engel fernhält, um die im Text als so notwendig beschworene Erfahrung von Natur zu erleichtern. Dabei zeigen Jutta Richter und Aljoscha Blau zwei Seiten der Wildnis: Zwischen dem rauen Gestrüpp warten Lupinen und Himbeeren, Kissen aus Moos und lauer Wind. Ebenso ist auch der Engel selbst doppelseitig: Im Bild entwächst er ausgerechnet aus jenen beißenden Blättern, vor denen er schützt, er ist Verlockung, Herausforderung, Lohn und Preis zugleich. „Der Brennesselengel geht immer voran.“ Er führt ins Dickicht und auch wieder heraus. Und spätestens wenn er im Abendrot den Weg zurück in die Zivilisation zeigt, hat der Text die Sehnsucht nach der Wildnis neu geweckt.
Christina Ulm
Der Neinengel
Ein (weiterer) besonderer Engel ist der Neinengel – kein schützender Engel, der im Hintergrund aufwartet, sondern ein aktiver, einer, der auffordert, einer, der Mut spendet – ein Kämpferengel. „Das muss ein starker Engel sein, / der uns Mut macht für ein Nein.“ Entsprechend stark und manifest wird dieser Engel auch auf der Bildebene inszeniert. Umgeben von felsgrauen Baumsilhouetten wirkt er beinahe wie ein klassischer steinerner Friedhofsengel: auf einem Sockel mit großen Flügeln. Dass dieser Engel aber kein versteinerter ist, der fernab über den Menschen thront, zeigt sich in den Details – trägt er doch Boxerhose und -handschuhe und am Kopf eine leuchtend rote (Wrestling?) Maske. Dadurch wird er menschlich und zugänglich. Zeigt seine kämpferische Natur, seine Bereitwilligkeit für uns oder mit uns in den Ring zu steigen. Die Textebene beschreibt diesen Kampfschauplatz: nicht um einen Faustkampf soll es sich handeln, wahre Kämpfe trägt man mit „offenen Worten“ aus. Das Wagnis liegt im Nein sagen. Nicht mit dem Strom zu schwimmen, sondern sich von der Masse abzuheben. Das sprachlich reduziert gehaltene Gedicht liest sich als eingängiges Plädoyer für (Zivil-) Courage – und macht Mut eben diese an den Tag zu legen!
Elisabeth von Leon
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