Kröte des Monats September 2014
Aus der Reihe Poesie für Kinder.
Kindermann 2014.
32 S., € 16,00.
Friedrich Schiller / Valentina Corradini:
Die Kraniche des Ibykus
„Sieh da! Sieh da, Timotheus, die Kraniche des Ibykus!“ Jene Aufforderung zum Schauen – längst zum geflügelten Wort geworden – darf hier durchaus programmatisch verstanden werden: Gilt es doch einen (erneuten) Blick auf jene Schicksalsballade von Friedrich Schiller zu werfen, die erstmals im Balladenjahr 1797 im „Musenalmanach“ erschienen ist. In 23 Strophen etablierte Schiller den damals bekannten Stoff um den Dichter Ibykus, der im 6. Jhdt. v. Chr. auf dem Weg nach Akrokorinth, „Zum Kampf der Wagen und Gesänge“, grausam ermordet wurde. Mit Meuchelmord, Rache und Strafe ist „Die Kraniche des Ibykus“ nicht gerade der naheliegendste Text für die Reihe „Poesie für Kinder“ des Kindermann Verlags, umso außergewöhnlicher darf die Publikation bezeichnet werden, die sich der Verlag zum 20. Geburtstag schenkt. Für die Illustration der Ballade wurde – ganz im Sinne der Isthmischen Spiele, zu den Ibykus auf dem Weg ist – ein Wettstreit ausgerufen: Das Rennen unter Studierenden der HAW Hamburg machte die junge Künstlerin Valentina Corradini,
die mit ihrem Coverentwurf und zwei Innenbildern den Auftrag zum Projekt bekam. Dass diese wie Ibykus aus Italien stammt, soll kein böses Omen sein, vielmehr hat sie sich der Figur auf besondere Art genähert und schafft es mit ihren schraffierten Buntstiftzeichnungen dem Text eine leichte Note zu entlocken, die der Faszination für einen guten Krimi gleichkommt.
Das antike Setting bricht sie dabei auf: Korinth ist bereits Ruine, Autos fahren auf den griechischen Hügeln, die Menschen tragen moderne Kleidung. Die universale Bedeutung der Ballade unterstreicht die Künstlerin so nicht mit Zeitlosigkeit, sondern mit Gleichzeitigkeit: Antike Versatzstücken werden neben zeitgenössische Sujets gestellt.
Schlüsselrolle bei der Entlarvung der Mörder spielen bekanntlich die Kraniche, entsprechend präsent setzt sie Corradini in Szene. Dem „graulichtem Geschwader“, im „schwärzlichtem Gewimmel“ Schillers entnimmt sie wahrlich schräge Vögel: Langbeinig, schmalgliedrig, stumm, mit großen Augen und warmem Blick erinnern die Kraniche Corradinis an Pantomime, die Ibykus schon auf dem Schmutztitel leiten. Der Beziehung zwischen Mensch und Vogelschar – den „befreundeten Scharen“, den „guten Zeichen“, wie sie Ibykus nennt – wird in den Bildern großer Raum gegeben und die Passivität der Kraniche mit handelnder Anteilnahme getauscht. Fast kontrapunktisch zeigen sie Ibykus den Weg, umfliegen ihn, hören ihm zu, sehen ihn an. Und während sich nach dem Mord der Wegelagerer in Poseidons Fichtenhain der sterbende Dichter im Text „verlassen“ und „unbeweint“ wähnt, scharen sich die Kraniche der Bildebene trauernd und klagend um ihn. „Von euch, ihr Kraniche dort oben, wenn keine andre Stimme spricht, sei meines Mordes Klag´ erhoben!“ Er ruft es, und sein Auge bricht.“ Das Publikum der Festspiele ist bestürzt ob des Todes ihres Stars, der als Skelett und mit doch erkennbarem Gesicht (ein wunderschönes Bild für den noch nicht entpersonalisierten toten Körper) vor ihnen ruht.
Dem Wunsch nach Sühne, Rache, Blut folgen die Schlüsselszene des Textes im vollen Amphitheater („es brechen fast der Bühne Stützen“) und damit auch der Höhepunkt des Bilderbuches: Auftritt Eumeniden – „die drei griechischen Rachegöttinnen Alekto, Magaira und Tisiphone“, wie uns das hilfreiche Glossar am Ende verrät. Großartig grotesk setzt die Künstlerin die drei Frauenfiguren in Szene. Im „Riesenmaß der Leiber“ ragen die medusenähnlichen Gestalten hoch über das Theater hinaus, das nur mehr als Miniaturwelt erkennbar ist. Die drei Gesichter, die wie die Masken des antiken Dramas in schwarze, unförmige Leiber installiert sind, spiegeln die Reaktionen auf den Tod: Zorn, Enttäuschung und Trauer. In ihnen verdichtet Corradini die Fülle des vorgetragenen, mehrstrophigen Hymnus. Der Wunsch nach Rache oder eher Gerechtigkeit, „besinnungsraubend, herzbetörend“, ist an den Figuren ablesbar. Wenn sich der Chor der Eumeniden zu winden und in Leserichtung zu beugen beginnt, erinnert er an die Kraniche und Bäume des Schicksalhains zuvor. So deutet Corradini schon auf den vorangegangenen Seiten – wie ein Omen – die Präsenz der drohenden Rache an. Die schließlich zuschlägt, in variierter Form. Denn während die Kraniche in Schillers Text passives Mahnmal und Erinnerungsträger sind, spricht ihnen die Bildebene mitfühlende und aktive Gestik und Mimik zu: Auch Flügel können erbost auf die Mörder zeigen, die mitten im lauschenden Publikum sind. Das Moment der unabsichtlichen Selbstanzeige, das der Ballade zugrunde liegt, wird so relativiert, die Kraniche sind es, die auf illustrativer Ebene für Gerechtigkeit sorgen. Damit personifizieren sie jenes Gefühl bei der Lektüre, das die (jungen) Leser*innen umfängt: Es ist nicht rechtens, was hier passiert ist, man ist traurig um Ibykus, den Götterfreund.
Corradini stilisiert die Kraniche zum Träger der Gerechtigkeit (setzt sie sogar ins Geschworenengericht) und betont so einen zentralen Aspekt des Ursprungstextes von Schiller, der besonders für das junge Publikum von Bedeutung scheint. Wenn die Mörder vor dem Tribunal mit dem Verstorbenen (wortwörtlich) aufgewogen werden und schließlich, endlich über dem Impressum hinter Gittern zu sehen sind, ist nicht nur der Gerechtigkeit Genüge getan, sondern auch der Kunst. „Sieh da! Sieh da, Timotheus, die Kraniche des Ibykus!“ – ein wahrlich gelungenes Beispiel für Weltliteratur für Kinder.
Christina Ulm
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