Kröte des Monats Sommer 2014
Aus dem Engl. v. Astrid Becker. Alle Carlsen 2014.
Marissa Meyer: Die Luna-Chroniken
Lange als „Cyborg-Cinderella“ gehandelt und intern begeistert weitergereicht, sind die „Luna-Chroniken“ von Marissa Meyer mittlerweile zur erklärten neuen Kult-Buch-Reihe der STUBE geworden. Im englischsprachigen Raum sind bisher 3 von 4 Bänden erschienen; im deutschsprachigen 2 von 4. Die Autorin staffiert darin eine ganz und gar futuristische Welt mit anachronistischen Märchenmotiven, bringt die jeweiligen Versatzstücke passgenau zueinander und stellt in jedem Band eine starke Frauenfigur ins Zentrum, deren Biographien gescheit verwoben werden. Dementsprechend ließen es sich die Mitarbeiterinnen der STUBE nicht nehmen, diesen Sommerschmöker figurenkonzentriert in den Blick zu nehmen.
Zur Orientierung: Wir befinden uns 126 Jahre nach dem Vierten Weltkrieg, durch den sich Staatenbünde etabliert haben, die in etwa den heutigen Kontinenten entsprechen. Dieser futuristischen Welt wird Lunarien zugefügt, das sich aus einer irdischen Mondkolonie entwickelt hat. Gelenkt werden die Geschicke Lunariens, das zunehmend die Erde bedroht, durch die machthungrige Königin Levana. Die Hoffnung der Lunarier und der Menschen gleichermaßen liegt in Prinzessin Selen, die von Levana durch ein Feuer getötet wurde, von der man aber vermutet, sie sei noch am Leben …
Band 1 „Wie Monde so silbern“: Cinder
„Linh Cinder, lizenzierte Mechanikerin, ID #0097917305, Geb. 29. November 109 D.Z., 0 Suchergebnisse, Wohnhaft in Neu-Peking, Asiatischer Staatenbund. Mündel von Linh Adri.“
Im Auftakt der Luna-Chroniken begegnen wir der besten Mechanikerin von Neu-Peking und mit ihr auch der ersten deutlichen Märchenreferenz: Linh Cinder (welch sprechender Name) ist Halbwaise, ungeliebte Stieftochter, unterdrückte Arbeiterin – mit einem Cyborganteil von 36,28 Prozent. Seit einem Unfall in ihrer Kindheit ist ihr Körper ausgestattet mit einer künstlichen Hand, einem künstlichen Fuß, Drähten von der Schädelbasis zum Rückgrat, Metallrippen, künstlichem Gewebe um das Herz. Dieserart deformiert und synthetisch zusammengefügt ist Cinder schon rein körperlich als tough markiert und dementsprechend wird sie auch charakterisiert.
Als Cinder – dem Plot des Märchens folgend – von Prinz Kai, baldigem Imperator des Asiatischen Staatenbundes, auf einen Ball eingeladen wird, wo sie im zerfetzten und motorölbefleckten Kleid in einem spektakulären Finale (schließlich gilt es die drohende Invasion der Mondkönigin Levana zu vereiteln) etwas bestimmtes verliert, werden weitere Analogien zu Filmikonen wie Sarah Connor oder Ellen Ripley deutlich. Selbst wenn Cinder in ihren Beziehungen – zu Hilfsandroidin Iko, eine entzückende Mischung aus R2-D2 und C-3PO und natürlich zu Prinz Kai – merklich sanfter gezeichnet ist.
Was in mancher rüden Zusammenfassung motivisch etwas überladen klingt, funktioniert im Text hervorragend. Nicht zuletzt, weil die Autorin selbst Teil jener Fankulturen ist, für die diese Bände wohl auch geschrieben sind: Jemand, der sich im Nachwort bei den „Experten der Sailer-Moon-Fangemeinde“ ebenso bedankt wie bei einem Forscher für chinesische Höflichkeitsformen und dem Star-Wars-obsessiven Bruder, hat seine Recherche-Hausaufgaben gemacht und den Hype, der mittlerweile um die Bücher ansetzt, verdient. Ganz abgesehen davon, dass es Marissa Meyer versteht, Cinder nicht nur mit einer Besonderheit auszustatten, sondern im Laufe der vier Bände weitere biographische Leerstellen überraschend zu füllen weiß und ihrer Protagonistin schwere Entscheidungen inmitten all der Verschwörungen abverlangt …
Christina Ulm
Band 2 „Wie Blut so rot“: Scarlet
Band 1 endet mit der himmelschreienden Ungerechtigkeit, dass Linh Cinder für ihren Angriff auf Königin Levana ins Gefängnis geworfen wird und ausgerechnet der königliche Forscher Dr. Erland sie daraus befreit und ihr einen (Aus-) Weg weist … Wer nicht um den figurenorientierten Aufbau der Luna-Chroniken weiß und Band 2 aufschlägt, um an dieser spannenden Passage weiterzulesen, wird zunächst enttäuscht. Denn von Linh Cinder ist weit und breit keine Spur – zumindest in Kapitel 1, 2 und 3. Denn dort wird Scarlet (nomen est omen) etabliert: Zwar trägt sie kein rotes Häubchen und auch keinen Korb mit Wein und Kuchen, doch liefert sie Lebensmittel aus, die sie mit ihrer Großmutter auf einer Farm nahe des Waldrandes irgendwo in Frankreich anpflanzt. Marissa Meyer lehnt ihre zweite zentrale Protagonistin unschwer erkennbar an Rotkäppchen an. Geschickt verflechtet sie die Handlungsstränge Scarlets und Linh Cinders: Zu Beginn taucht Linh Cinder nur in Form von schlagzeilentauglichen Nachrichten auf dem Netscreen in einer Spelunke auf, die Scarlet gerade besucht; ab Kapitel 4 werden die Geschicke der beiden Frauenfiguren abwechselnd erzählt. Linh Cinder wird dabei ein humoriger Sidekick an die Seite gestellt: „Kapitän“ („Eigentlich Kadett, aber Kapitän macht mehr Eindruck bei den Mädchen.“) Carswell Thorne hat ein dermaßen aufgeblasenes Ego, dass es schon wieder sympathisch ist – vor allem weil er immer wieder damit aneckt. Und auch Iko, Cinders Androidin, ist wieder mit von der Partie – allerdings in neuer Gestalt. In ihrer neuen Form ist es letztlich sie, die Cinder und Thorne nach Frankreich und zum Dreh- und Angelpunkt von Band 2 bringt: Dieser ist nämlich Scarlets Großmutter, die plötzlich verschwunden ist. Als ihre Enkelin sie zu suchen beginnt, findet diese jedoch – dem Märchen entsprechend – stattdessen einen (Mann namens) Wolf. Dieser manifestiert sich als gutaussehender Straßenkämpfer mit mysteriösen Tattoos und Kampfinstinkt. Prägt er sich erst einmal auf eine Frau, dann lässt er so schnell von seiner „Beute“ nicht mehr ab (hier erinnert Meyer doch sehr an Meyer). Obwohl sich Scarlet auf den geheimnisvollen Fremden einlässt und sich so eine mitreißende Liebesgeschichte entspinnt, bleibt Marissa Meyer ihren starken Frauenfiguren treu und etabliert auch Scarlet als tapfere und mutige Heldin. Als sie endlich auf Linh Cinder trifft, müssen die beiden erstmal einem Angriff lunarischer Armeen Widerstand leisten – und Wolf seiner (genetisch manipulierten) Natur …
Elisabeth von Leon
Band 3 „Wie Sterne so golden“: Cress
Die Rampion ist auf der Flucht. Und das illustre Grüppchen jener, die nach und nach zu Rebellen gegen Königin Levana heranwachsen, umfasst bereits Cinder, Scarlet, Wolf und Captain Carswell Thorne. Doch die Uhr tickt – sozusagen wortwörtlich, denn bereits zu Beginn von „Cress“ generiert Iko einen sichtbaren Countdown im Raumschiff: „T minus fifteen days, nine hours until the royal wedding“.
Die Hochzeit zwischen emperor Kai und queen Levana steht erneut im Zentrum des Interesses: Sie soll definitiv stattfinden. Schon alleine, weil ein Blitzangriff der Lunarischen Armee als Racheakt für Cinders Flucht 16.000 Menschenleben gefordert hat und Levana als Morgengabe Frieden verspricht. Für die Rebellen ist sie äußeres Zeichen ebenso wie Handlungsoption – ein kurioser Rettungsplan für die Erde wird entworfen, von dem für die Leser*innen nur wenig offen gelegt wird: Er beruht auf Cinders Geheimnis um ihre Herkunft und der Möglichkeit, im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten aktiv zu werden.
Soweit jener Plot, der sich über die „Lunar Chronicles“ spannt, deren nunmehr dritter Band „Cress“ im Original bereits erschienen ist und für Herbst in seiner deutschsprachigen Ausgabe angekündigt wird. Warum also nicht ein wenig englischsprachige Lektüre im Sommer?
Einmal mehr verweist der titelgebende Mädchenname auf das entsprechende Märchen, das der Handlungsstruktur und Figurenkonstellation dieses Bandes zu Grunde gelegt wird. „Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen.“
“Her Satellite made one full orbit around Planet Earth every sixty hours.”
Crescent Moon, genannt Cress, war ebenfalls erst 10 Jahre alt, als sie von thaumaturge Cybill in einen winzigen Satelliten gesteckt wurde. Nach und nach wuchs sie zum Ein-Frau-Nachrichten-Dienst Lunariens heran und entwickelte unter anderem ein Programm, um Lunariens Raumschiffe für das Radar unsichtbar zu machen. Ihre Zeit verbringt sie damit, ihre Hacker-Fähigkeiten zu optimieren, sich selbst Lullabies vorzusingen und komplizierte Zopfmuster in ihr langes Haar zu flechten. Als shell wurde Cress von ihren Lunarischen Eltern weggegeben; doch wie auch im Märchen der Brüder Grimm stellt Cress sich als spätes Kind heraus, das der Biografie einer der schon im literarischen Spiel der Lunar Chronicles befindlichen Figuren zugefügt wird. Darüber hinaus bedient sich Marissa Meyer auch an Hans Christian Andersen. Dann nämlich, wenn die Sehnsucht der jungen Cress sich wie jene der kleinen Meerjungfrau ganz und gar auf die Menschen richtet, sie diese über ihre zahlreichen Netscreens beobachtet. Sobald Raumschiffe ins Spiel kommen, dürfen jedoch auch die Anleihen an den modernen Mythos nicht fehlen: Immer deutlicher wird die Figur des Captain Thorne an Han Solo aus „Star Wars“ angelehnt, wenn Cress der Rampion ihre Dienste anbietet und gleichzeitig um Hilfe bittet. Ihm jedoch wird auch das Schicksal jenes Königsohns zugemutet, der Rapunzel aus ihrem Turm befreien will und dafür mit dem Sturz in die Dornen bezahlt, die ihm seine Augen ausstechen. Jene Wüstenei, in der Rapunzel bis zum glücklichen Ende alleine leben muss, wird hier zur wortwörtlichen Wüste: Nach Frankreich wird nun nach Afrika gewechselt, wo Cinder auf ihrer Flucht erneut auf Dr. Erland trifft. Bis im Showdown die Hochzeit gecrasht wird, wird die illustre Rebellengruppe auf tragische Weise getrennt; Scarlet bleibt sogar – zu Wolfs Entsetzen – bis zum Ende Gefangene der Lunarier und wird dort nach zahlreichen Torturen der wunderschönen, wenn auch verunstalteten Stieftochter von Levana übergeben, die nicht bei Zwergen, sondern in einer Menagerie lebt und erahnen lässt, dass der finale vierte Band „Winter“ (Erscheinungstermin 2015) auf Luna spielen wird. Denn, um Kai zu zitieren: “The people of Luna don’t need a princess, they need a revoluntionary.”
Heidi Lexe
Die Cover der englischen Originalausgaben.
Feiwel & Friends / Puffin.
Sehr zu empfehlen (für lange Staus auf der Autobahn, Zugreisen oder Strandspaziergänge): Die ungekürzten Hörbücher der Reihe erschienen bei Silberfisch, großartig gelesen von Vanida Karun als praktische mp3 CDs. Hier gehts zur Hörprobe.
Ob in der Übersetzung bei Carlsen, im Original bei Puffin oder als Hörbuch bei Silberfisch - mit diesem besonderen Buchtipp wünscht das Team der STUBE Ihnen/Euch einen guten Sommer! Wir sehen uns wieder im Herbst. In neuem Outfit ...
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