Kröte des Monats Juni 2013
Luftschacht 2013.
104 S., € 17,90.
Elisabeth Steinkellner / Michael Roher: Wer fürchtet sich vorm lila Lachs?
Das Volksmärchen lebt von Stereotypen, vor allem, was die Figuren betrifft: Sie seien eindimensional, flach, haben keinen Charakter. Hänsel, Schneewittchen und Co haben sich in der Märchenforschung diesbezüglich allerhand anhören müssen.
Schön also, dass sich Elisabeth Steinkellner und Michael Roher den Missverstandenen endlich einmal annehmen und das Korsett der Märchenkonvention deutlich lockern (oder überhaupt gleich verbrennen). "Aufstand" heißt es in der letzten der 20 Geschichten, in der die Märchenfiguren aus dem Märchenbuch klettern und vom Erzähler mit einem wohlwollenden "Adieu" verabschiedet werden. Kein Wunder, schließlich müssen sie sich am anderen Ende dieses opulenten Buches (also zu Beginn) von einem frechen Lump viel gefallen lassen: Der hänselt einfach die Gretel, klatscht den Prinzen an die Wand und stiehlt den Brüdern Grimm (Metafiktion lässt grüßen) den Stift.
Versteht man das Volksmärchen als Schablone, dann wird hier ordentlich über den Rand gefahren: Der Wolf und seine 7 Greislein werden ebenso zum Kanon gezählt wie der Suppenkaspar oder King Elvis himself. Steinkellner und Roher streuen zwar ganz traditionelle Märchenmomente, spielen mit dem klassischen Erzählgestus und nutzen die formelhafte Sprache schamlos aus – biegen aber nach dem "Es war einmal" scharf und mit Karacho ins herrlich Abstruse ab.
Ein sehnlich erwartetes Kind? Klassisches Märchenmotiv. Dass dieses aber dann ein Junge wird und von den unzufriedenen Eltern nicht umgetauscht werden kann und so schließlich bei einer alten Frau im Schattenwald landet, eher nicht. "Das ist gemein, denkst du und ich gebe dir recht. Aber zum Glück war die Frau aus dem Schattenwald eine ganz eine liebe." Und so wächst der Bub unter dem Namen Rapunzel heran, bis er in die Pubertät kommt, laute Rockmusik hört und Poster von Balletttänzern an seine Zimmerwand klebt. Bis schließlich jemand Besonderer vor dem Turmfenster steht … und (wie das nun mal so ist in der Pubertät mit den Haaren) an Rapunzels Bart hochklettert. So lebten sie glücklich mit der neuen KuschelRock-CD, Wackelpudding und Weizenbier und fuhren gerne ins Strandbad nach Kümmelbach zum Schwimmen. (Apropos Wackelpudding: In "(K)ein Märchen" trägt diesen eine Frau tagein, tagaus auf dem Kopf und "sonst passierte eigentlich gar nichts. […] Und wenn sie nicht gestorben ist, so ist sie bestimmt schon sehr alt und den Wackelpudding sollte lieber niemand mehr essen.")
Es ist das unkonventionelle Glück, dass die Figuren hier finden und so reichern die beiden Autor*innen ihre Fabulierlust und ihren Hang zum Nonsens auch mit einer ordentlichen Portion Menschenliebe an.
Mit eleganter Leichtigkeit werden Rollenzuschreibungen unterwandert oder parodistisch unterstrichen – der satirische Charakter geht dabei allerdings nie auf Kosten des märchenhaften Tons und der fabelhaften Eignung zum vor-, gemeinsam-, oder selber Lesen.
Dass Roher und Steinkellner einen ordentlichen Spaß beim Schreiben gehabt haben müssen, ist augenscheinlich – dass sich dieser aber so auf die Lesenden überträgt, keine Selbstverständlichkeit. Die Geschichten wachsen einem außerordentlich ans Herz, ebenso wie die Illustrationen aus Tusche von Michael Roher. Ob als Vignetten oder großflächige Wimmelsequenzen – Text und Bild fühlen sich an wie aus einem Guss, ganz egal, wer von den beiden für die einzelnen Märchen verantwortlich zeichnet. Die vielen kleinen Verweise, Binnenerzählungen und Intertextualitäten machen dieses Hausbuch zu einem mehrfachadressierten Lesegenuss.
"Ein Märchenbuch von Elisabeth Steinkellner und Michael Roher" heißt es im Untertitel. Damit schreiben sich die beiden ganz bewusst in eine zentrale Tradition der KJL ein und bereichern diese ungemein. Dementsprechend sei auch dem Verlag Luftschacht zu danken, der den überbordenden Ideenreichtum so schön gewandet hat: eine genussvolle Haptik, ein purpurner Vorsatz. Ein Königsmantel quasi. Fehlt nur noch Hermelin und Edelstein – selbst das hätte dieses Buch verdient.
Christina Ulm
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