Kröte des Monats Dezember 2012
Jacoby & Stuart 2012.
64 S., € 36,00.
Benjamin Lacombe / Sebastien Perez:
Das Elfen-Bestimmungsbuch
Die Weihnachtseinkäufe in der Wiener City können heuer nicht nur unter den gewohnt prunkvollen Lustern am Graben stattfinden, sondern diesmal auch mit besonderer kinderliterarischer Relevanz: Als erster Künstler gestaltete der französische Illustrator Benjamin Lacombe für das neu renovierte Kaufhaus Steffl in der Kärtnerstraße Schaufenster und Innendekoration. Wer beim Betrachten der gleichermaßen niedlichen wie unheimlichen Tiere in einer Winterlandschaft auf den Geschmack kommt, dem sei Benjamin Lacombes jüngstes auf Deutsch erschienenes Buch ans Herz gelegt. Die erneute Zusammenarbeit mit Autor Sébastien Perez ist wie bereits bei "Lisbeth und das Erbe der Hexen" an der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation angesiedelt und mit enormem Aufwand in der Buchgestaltung umgesetzt. Handschriftliche Tagebucheinträge, Briefe, Forschungsnotizen und Zeichnungen bilden ein fiktionales Album rund um den russischen Naturwissenschaftler Alexander Bogdanowitsch, der 1914 von Rasputin persönlich nach Frankreich entsandt wird, um ein Unsterblichkeitselixier zu entwickeln.
Was er in den Wäldern von Brocéliande in der Bretagne findet, ist jedoch von noch viel größerem Wert: Denn nach und nach zeigt sich, dass jede Pflanze des Waldes von einer unbekannten Art bewohnt ist. Diese Wesen versteht der überwältigte Bogdanowitsch erst nach und nach zu kategorisieren: "Pilularia animans", kleine amphibische Wesen, die in Pillenfarn leben, "Aruma animans", lebende Beeren oder "Hellebora", die anmutig zwischen Grünem Nieswurz tanzen. Diese Wesen sind ganz typisch für Lacombe "grenzwertig" angelegt: Während es ja in der Biologie eine ganz klare Unterscheidung zwischen Pflanze, Tier, Mensch gibt, wird diese hier auf faszinierende Weise aufgehoben, weil ihre Existenz stets zwischen Pflanze, Tier, Mensch und Elfe changiert. Das akribische Zeichnen der Botanik und exakte Abbilden von Pflanzen und Lebewesen steht dabei in interessantem Kontrast zu den überbordenden Bildwelten, die die scheuen Wesen porträtieren. Während Bogdanowitsch diese zunächst skrupellos zerstört, um sie zu erforschen, erhöht er sie schließlich als zu schützende Lebewesen und weigert sich, weiterhin Berichte über seine Forschungen an Rasputin zu liefern.
So lässt sich das Buch auch als Parabel auf die Frage nach der Ethik in der Wissenschaft lesen. Gleichzeitig ist es eine Geschichte des zunehmenden Wahnsinns: Schließlich wird uns die magische Welt der Wälder von Brocéliande nur aus der Perspektive von Bogdanowitsch geschildert. Ganz im Sinne des Konzepts des "unzuverlässigen Erzählers" bleibt letztlich offen, ob die in Bild und Text dargestellten Wesen nun "real" sind oder lediglich seiner übersteigerten Phantasie entspringen. Das Verwischen der Grenzen zeigt sich schließlich auch im Verbleib des auf der Bildebene zunehmend zurücktretenden Wissenschaftlers, der schließlich zum Teil der magischen Welt wird und nicht mehr in die Zivilisation zurückkehrt.
Das französische Original "L'Herbier des Fées" ist übrigens auch als E-Book mit aufwändigen Animationen erschienen. Einen Trailer dazu finden Sie hier.
Christina Ulm/Kathrin Wexberg
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