Kröte des Monats Sommer 2012
Ravensburger 2012.
576 S., € 18,50.
Hörbuch gelesen von Simon Jäger.
6 CDs.
Silberfisch 2012
Nina Blazon: Wolfszeit
4 Gründe warum Sie dieses Buch im Sommer lesen oder hören sollten - von einem dem Buch verfallenen STUBE-Team.
1. Die kriminologische Spannung
C.S.I. Gévaudan. Erst an die hundert Jahre nach der Zeit, in die Nina Blazon die Handlung ihres historischen Romans stellt, verortet man den ersten Pionier der Forensik. Dennoch wendet der junge Thomas Auvray durchaus forensische Mittel an, wenn es darum geht, jener Bestie auf die Spur zu kommen, die im Jahr 1765 in der französischen Auvergne zuallererst Frauen und Kinder tötet. Als Mitarbeiter des für Versailles tätigen Naturforschers Monsieur de Buffon verfügt Thomas über die biologischen Kenntnisse – als Schüler der königlichen Zeichenakademie über die Mittel, seine exakten Beobachtungen forensisch genau festzuhalten. Trickreich vermag er sich den Jägern anzuschließen, die ins Gévaudan aufbrechen, um die Bestie zu jagen. Nina Blazon gelingt es, die eigene Lust an der Recherche auf ihre Zentralfigur zu übertragen: Es sind Thomas‘ in zahlreichen Skizzen festgehaltenen Beobachtungen der Tatorte, der Opfer und Spuren, die letztlich zu einer gültigen Theorie über das Wesen der Bestie führen – und damit die wunderbar komponierten Irrungen und Wirrungen des Plots erst ermöglichen. Denn Thomas‘ Freude daran, das Erschaute zeichnerisch festzuhalten, geht weit über den eigentlichen Kriminalfall hinaus und löst die an zahlreichen Stellen geknüpften Handlungsfäden – zum Beispiel dann, wenn sich zeigt, dass eine geheime Verbindung zwischen einer Adelsfamilie und einer Wirtshausfamilie besteht …
Heidi Lexe
2. Der historische Kontext
"Nur wer gefehlt hat, muss leiden. Dieser Grundsatz lässt euch keinen Zweifel: Euer Unglück kann nur aus euren Sünden kommen." Mit solchen Auszügen aus dem historischen Hirtenbrief des Bischofs von Mende, die sie dem ersten Kapitel voranstellt, verweist Nina Blazon bereits deutlich auf den sozialhistorischen Kontext, in dem sie ihre Geschichte detailreich verortet: So wird das Schicksal der Figuren ganz zentral durch ihre gesellschaftliche Position geprägt. Während der Bischof also der Meinung ist, die Untaten der Bestie seien die gerechte Strafe für die Sünden der Menschen, geht es dem König vor allem darum, sein Ansehen zu bewahren – und ob sich die Bauern bewaffnen dürfen, um sich gegen die Bestie zu verteidigen, liegt nicht in ihrer Entscheidungsmacht. Auch die sympathische Hauptfigur Thomas Auvray hat zunächst wenig Spielraum in einer höfischen Welt, in der Wohlwollen oder Ablehnung des Königs alles entscheiden können. Doch die rauhe Landschaft des Gévaudan und das Leben der einfachen Leute dort zeigt ihm, wie Leben auch sein könnte – und das man die Entscheidung, mit wem man dieses Leben verbringen möchte, vielleicht doch nicht unbedingt dem Willen anderer überlassen sollte …
Kathrin Wexberg
3. Die Liebe
"Die Liebe hemmet nichts; / sie kennt nicht Tür noch Riegel / Und dringt durch alles sich" – die von Matthias Claudius so berühmt beschriebene Liebe findet sich auch in Nina Blazons "Wolfszeit", wenn der junge Thomas Auvray auf einem romantischen Schloss mitten in der Nacht einer jungen, beinahe geisterhaft wirkenden Frau begegnet. Die unbekannte Schöne, so findet der begabte Beinahe-Profiler schnell heraus, ist eigentlich die Schlossdame und wird hinter der Bibliothek in einem Turm eingesperrt. Doch die Liebe kennt nicht Tür noch Riegel und auch nicht Thomas, der in das Versteck der Adligen und langsam auch in ihr Herz vordringt und ihr Vertrauen gewinnt. Als sich Isabelle d`Apcher Thomas endlich anvertraut, wird schnell klar: Auch sie ist ein Opfer der mysteriösen wolfsähnlichen Bestie, die im Gévaudan ihr Unwesen treibt. Isabelle hat als Überlebende Erinnerungen an ihren brutalen Überfall, die neue spannende Fragen eröffnen: Wer verbirgt sich etwa hinter dem ominösen Namen "Cauchemar", der Isabelle seit jener Nacht nicht mehr aus dem Kopf will? Und warum reagiert die Wirtshausfamilie im nahegelegenen Dorf so verschreckt auf Isabelle d`Apcher und ihren Clan?
Elisabeth von Leon
4. Die Bestie
So schön Landschaft und Liebe in "Wolfszeit" geschildert werden, so grausam beschreibt Nina Blazon das Wüten ihrer "Bestie". Deren tatsächliche Manifestation wird an dieser Stelle natürlich nicht enthüllt*, aber es darf verraten werden, dass diese gleichsam tierisch wie menschlich ist – wenn auch ganz anders geartet, als es an Fantasy gewöhnte Leser*innen wohl erwarten würden. Die historischen (bis heute ungeklärten) Tatsachen rund um die Morde im Gévaudan eröffnen eine reizvolle Leerstelle, die Nina Blazon mit erzählerischer Raffinesse ausgestaltet. Diese Leerstelle wiederum als Leserin mit den unterschiedlichsten Theorien zu füllen, erweist sich als ungemein spannend. Schließlich etabliert Nina Blazon ein großes Figurenrepertoire, das viele Verdächtige birgt und die Aufdeckung der Mordserie gleichzeitig zur Entdeckung des Bösen macht. Denn so schmal der erzählerische Grat zwischen üppiger idyllischer Schönheit und menschlichen Abgründen in diesem Roman angelegt ist, so schmal ist auch der Grat zwischen Zivilisation und Verrohung. Getreu dem Motto: homo homini lupus.
Christina Ulm
* wer sich ein bisschen spoilern lassen will, der google "cú faoil"