Kröte des Monats November 2010
Hanser 2010
144 S., € 15,40
Monika Helfer / Michael Köhlmeier: Rosie und der Urgroßvater
Geschichten zu erzählen spielt eine große Rolle, wenn es darum geht, Traditionen weiterzugeben und lebendig zu erhalten. Und Geschichten haben eine besondere Faszination, wenn sie von einer Welt berichten, die in dieser Form unwiderruflich verloren ist: Wie jene der jüdischen Bevölkerung in "der kleinen Stadt Hohenems in Austria Europe", von der ihr Urgroßvater Rosie, einem New Yorker Mädchen, jeden Mittwochnachmittag erzählt. Es sind Geschichten voller Gewitztheit und Humor: Wie jene der folgenschweren Verwechslung zwischen dem christlichen Erlöser und dem jüdischen Messias oder des Milchig-Löffels, der den anderen Löffeln eine flammende Rede hält, denn der Löffel ist schließlich der Komiker unter den Bestecken. Von den ausgeschmückten Erlebnissen der anderen kommt der Urgroßvater irgendwann auch zu seiner eigenen (Lebens-)Geschichte – die geprägt ist von der endgültigen Vertreibung der jüdischen Menschen aus Hohenems:
"Dort war er selbst ein Kind gewesen und hat gern dort gewohnt, bis er nicht mehr gern dort gewohnt hat. Wenn er nämlich weiter dort gewohnt hätte, hätte er sich verstecken müssen, und wenn man ihn erwischt hätte, wäre er wie seine Mutter und sein wilder Bruder Eugen in ein Lager gekommen, und man hätte nichts mehr von ihm gehört, wie man bis auf den heutigen Tag nichts mehr von seiner Mutter und seinem wilden Bruder Eugen gehört hat."
Dennoch liegt der Schwerpunkt dieser literarischen Miniaturen nicht auf der Shoah, sondern auf der Vielfalt jüdischen Lebens und Brauchtums – ein Zugang, der auch jener des Jüdischen Museums in Hohenems ist, dem dieses Buch seine Entstehung verdankt: Monika Helfer und Barbara Steinitz, von der die beeindruckenden Bilder stammen, gestalteten die dortige Dauerausstellung für Kinder – die dafür verfassten Texte wurden von Monika Helfer und Michael Köhlmeier zu den Geschichten von Rosie und dem Urgroßvater weiterentwickelt, die wiederum oft jenen Geschichten ähneln, die Nachkommen von Hohenemser Juden zu erzählen wissen. Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, hat ein Glossar und ein Nachwort verfasst, sehr informative Texte, die die Geschichte mit ihrer Lust an Übertreibung und Ausschmückung in konkrete historische Kontexte einordnen. In jeder der kurzen Episoden spielt neben der Vergangenheit, die der Urgroßvater in seinen Geschichten so lebendig werden lässt, auch die Gegenwart der Familie eine Rolle: Die Unstimmigkeiten zwischen dem Urgroßvater und seiner Tochter, Rosies Großmutter, aber auch kleine Zwistigkeiten zwischen Rosie und dem Urgroßvater haben ihren Platz. Und wenn es um die Geschichte des Urgroßvaters und seiner großen Liebe geht, kommen schließlich die Geschichten der Vergangenheit und der Gegenwart zusammen…
Kathrin Wexberg
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