Kröte des Monats November
2007
Oetinger 2007
168 S.,
€ 14,90
Astrid Lindgren: Ur-Pippi. Kommentiert von Ulla Lundqvist.
Aus dem Schwedischen von Cäcilie Heinig und Angelika Kutsch
Im Jahr 1887 wurde im Nachlass von Luise von Göchhausen, der 1807 in Weimar verstorbenen Ersten Hofdame der Herzogin Anna Amalie von Sachsen-Weimar-Eisenach die Abschrift einiger Szenen von Johann Wolfgang Goethes Faust gefunden. Es handelte sich dabei um jene frühe Version des späteren Meisterwerks, die heute als „Urfaust“ bekannt ist. Der Fund dieser verschollen geglaubten Szenen galt als Sensation.
Nicht einmal 100 Jahre später (es dürften 90 gewesen sein) hielt die schwedische Literaturwissenschafterin Ulla Lundqvist erstmals ein Manuskript in Händen, das 1944 entstand und Grundlage war für jene 1945 veröffentlichte, überarbeitete Version des späteren Welterfolgs „Pippi Langstrumpf“:
Ohne mit der Wimper zu zucken vertraute sie [Astrid Lindgren] mir die wertvolle, mit der Maschine geschriebene Ur-Pippi mit ihrer eigenen, herrlichen Zeichnung auf dem Deckblatt an. Vermutlich war sich keiner von uns beiden bewusst, was für ein unersetzbares Dokument wir in den Händen hielten. (S. 118)
Das Manuskript hat Astrid Lindgren – so bezeugt eine handschriftliche Notiz auf dessen Titelseite – ihrer Tochter Karin zum 10. Geburtstag gewidmet. Nun endlich, anlässlich des 100. Geburtstages, den Astrid Lindgren am 14. November des heurigen Jahres gefeiert hätte, wird diese Textversion erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
In einer Übersetzung von Cäcilie Heinig und Angelika Kutsch zeigt sich Pippi Langstrumpf darin als weit ruppigere und deutlich weniger gutmütige Figur als in der späteren Buchversion. „Ich grüße Euch, ihr lieben kleinen karierten Kinder!“ ruft sie Tommy und Annika – und damit auch den Leser*innen - entgegen und schafft damit eine noch viel höhere Fallhöhe zwischen dem Kindbild ihrer Zeit und dem sich in ihrer Figur verfestigenden kindlichen Willen zur Macht, den Astrid Lindgren (sie beruft sich dabei auf Bertrand Russell) in ihrem ersten Brief an den Verlag Bonnier angesprochen hat.
Die Geschichte erscheint in vielen Handlungsmomenten viel weniger auserzählt; Pippi erklärt sich viel weniger selbst – und handelt deutlich rücksichtsloser und gerade Erwachsenen gegenüber deutlich frecher als in der späteren Buchversion. Auch ihre „Biographie“ wurde in der Buchversion nachhaltig ausgeschmückt; hier, in der Ur-Pippi, heißt es kurz angebunden:
Früher hatte Pippi mal einen Papa gehabt, ja, sie hatte natürlich auch eine Mama gehabt, aber das war so lange her, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Ihren Papa hatte sie jedenfalls nicht vergessen. Er war Kapitän und segelte über die großen Meere, und Pippi war mit ihm auf seinem Schiff gesegelt, bis er einmal bei einem Sturm ins Meer geweht worden und verschwunden war. (S. 13)
In den Text integriert sind Nonsens-Reime und Paraphrasen bekannter Lieder, womit die große schwedische Autorin sich durchaus als in der Tradition von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ stehend ausweist. Diese und viele andere Auffälligkeiten, die Veröffentlichungsgeschichte des Textes samt weitreichender Fehlentscheidung Bonniers, das Manuskript abzulehnen, sowie die sprachlichen Straffungen und „Anpassung an den Horizont der Kinder“, die für die Buchversion vorgenommen wurde, analysiert Ulla Lindqvist in ihrem umfangreichen Nachwort leicht verständlich und detailreich. Damit wird im kinderliterarischen Bereich, der ja gerade im Umgang mit seinen Klassikern die Textpflege nicht immer so genau nimmt, eine kommentierte Ausgabe präsentiert, die kurzweilig aufzeigt, wie interessant die Frage nach der Textgenese – und wie substanziell sie aufbereitet – sein kann.
Heidi Lexe
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