Thema: Katholischer Kinder- und Jugendbuchpreis 2018
Katholischer Kinder- und Jugendbuchpreis der Deutschen Bischofskonferenz geht 2018
an Lauren Wolk
Die US-amerikanische Autorin Lauren Wolk und die deutsche Übersetzerin Birgitt Kollmann erhalten den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis der Deutschen Bischofskonferenz für das im Hanser Verlag erschienene Buch „Das Jahr, in dem ich lügen lernte“. Die Jury unter Vorsitz von Weihbischof Robert Brahm (Trier) hat das diesjährige Preisbuch aus 280 Titeln ausgewählt, die von 76 Verlagen eingereicht wurden. Das Preisgeld in Höhe von 5.000 Euro wird zwischen Autorin (4.000 Euro) und Übersetzerin (1.000 Euro) aufgeteilt.
Der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis wird in diesem Jahr zum 29. Mal vergeben. Der Vorsitzende der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Gebhard Fürst (Rottenburg- Stuttgart), zeichnet die Preisträgerinnen am 24. Mai 2018 bei einem Festakt in Bonn aus..
Preisträgerin
Lauren Wolk: Das Jahr, in dem ich lügen lernte
Aus dem Amerik. v. Birgitt Kollmann. Hanser 2017.
Darf eine Lüge ausgesprochen werden, um die Wahrheit ans Licht zu bringen?
Die US-amerikanische Autorin Lauren Wolk legt diese Frage dem Finale ihres Jugendromans zu Grunde, dem das Lügen als dramaturgisches Moment und damit als ethische Herausforderung dient. Denn der titelgebende Lernprozess impliziert für die 12jährige Ich-Erzählerin Annabel die bittere Erkenntnis, dass Lügen Menschen als Machtinstrument dienen. Annabels retrospektiv (und damit auch reflektierend) erzählte Erlebnisse werden nicht von kleinen Schwindeleien bestimmt, sondern legen die strukturellen Aspekte des Lügens offen. Lauren Wolk wählt dafür ein historisches Setting: Im Jahr 1943 basiert der unausweichlich tragische Verlauf der Ereignisse auf mündlich verbreiteten Unwahrheiten jenseits digitaler Pandemie. Sich verselbständigende Gerüchte werden zur scheinbaren Wahrheit, mit deren Hilfe Vorurteile bestätigt und gesellschaftliche Hierarchien untermauert werden.
Wenn es im Dekalog heißt: „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen“ (Ex 20, 16), wird damit eine der menschheitsgeschichtlichen Grundkonstanten eines Lebens festgehalten, das aus dem Glauben an Gott heraus entsteht – und damit aus dem Glauben an das Gute im Menschen. Um dessen Dimension und eine daran gebundene Wahrheit zu begreifen, wird dem Guten schon im biblischen Kontext beispielhaft das Böse gegenüber gestellt. Lauren Wolk wählt dafür eine Figur mit dem Aussehen eines blondgelockten Engels, aber einer tiefschwarzen Seele. Mit Betty wird die unpopuläre Präsenz des Bösen nicht geleugnet, sondern zur Herausforderung für Annabel: Seit Betty neu in die kleine Gemeinde gekommen ist, muss Annabel jeden Tag am Schulweg an ihr vorbei; denn dieser Schulweg führt für Annabel, deren Familie eine Obst- und Gemüsefarm im Westen von Pennsylvania betreibt, unausweichlich durch die Wolfsschlucht – einem (tiefenpsychologischen) Bewährungsraum, in dem Betty Annabel auflauert. Als Annabel sich Bettys Erpressungsversuchen weitgehend verweigert, wendet sich Bettys Aggression gegen Annabels jüngere Geschwister. Annabel vertraut sich ihren Eltern an, die versuchen, Betty zur Verantwortung zu ziehen. Als jedoch Annabels Schulfreundin Ruth durch einen Steinwurf ein Auge verliert, zeigt sich Bettys manipulative Raffinesse: Mit Unschuldsblick lenkt sie den Verdacht auf Toby, einen Außenseiter, der vom Krieg traumatisiert jenseits zivilisatorischer Übereinkünfte in den Wäldern lebt und durch seine gesamte Erscheinung sichtbar schwer an seiner (Kriegs-) Schuld trägt.
Die allzu große Bereitschaft der Gemeinde, im ohnehin stigmatisierten Toby einen Übeltäter zu sehen, führt dazu, dass Annabel schuldlos schuldig (an ihm) wird; Lauren Wolk greift damit das Moment der Schuldverstrickung auf und zeigt, dass das Sein und Handeln jedes Menschen in den Kontext seiner/ihrer Geschichte gestellt ist. Mit der Frage, ob Toby unschuldig zur Verantwortung gezogen wird und Betty schuldig entkommt, verdichtet Lauren Wolk ihren Roman zunehmend zu einem Thriller. Sie bleibt dabei jedoch nicht der Oberflächenspannung verpflichtet, sondern fächert Annabels Kindheitserfahrungen sinnlich auf. Ihr genauer Blick für Details wird dabei nicht nur zu einem poetischen Mittel, sondern auch zu einer Konstante dessen, was sich ereignet, als Annabel zunehmend selbstbestimmt für die Wahrheit eintritt – und dafür lernt, zu lügen.
Folgende Bücher hat die Jury, der neben Weihbischof Robert Brahm (Vorsitz), Ute Auweiler (Bergisch Gladbach), Jun.-Prof. Dr. Norbert Brieden (Wuppertal), Gabriele Cramer (Münster), Cornelia Klöter (Leipzig), Bettina Kraemer (Bonn), Dr. Heidi Lexe (Wien), Dr. Klara Asako Sarholz (Bottrop), Anna Winkler-Benders (Frankfurt) und Elisabeth Wagner-Engert (Augsburg) angehören, auf die Empfehlungsliste 2018 gesetzt.
Empfehlungsliste 2018
Clémentine Beauvais: Die Königinnen der Würstchen
Um dem perfiden Facebook-Wettbewerb um das hässlichste Mädchen des Jahres etwas entgegenzusetzen, entschließen sich die drei „Siegerinnen“ der Wahl zur „Wurst des Jahres“ spontan, auf die erlittenen Demütigungen mit einer genialen Inszenierung von Selbstbewusstsein und Lebensfreude zu reagieren. Die sommerliche Fahrradtour quer durch Frankreich bis nach Paris, wo sie aus ganz unterschiedlichen Gründen die offizielle Gartenparty am Nationalfeiertag besuchen wollen, entwickelt sich schon bald zu einem medial stark beachteten Ereignis und verschafft den immer abenteuerlustiger werdenden Mädchen eine Riesenfangemeinde. Vor allem die wunderbar selbstironische Idee, die Reise ausgerechnet durch einen mobilen Würstchenverkauf zu finanzieren, entwickelt sich vor den Augen der Öffentlichkeit zu einem originellen Appell gegen den zerstörerischen Schönheitswahn und wird zu einer wirksamen Demonstration für eine Ächtung von Mobbingattacken im Netz. Clementine Beauvais schreibt pointiert und humorvoll und überzeugt mit einer spritzigen, herzerwärmenden, temporeichen und im richtigen Moment ganz ernsthaften Geschichte, die beweist, dass Freundschaft und gegenseitige Unterstützung Verletzungen heilen kann und dass Herz, Humor und Verstand jede Model-Optik toppen.
Carlsen 2017.
Ab 13 Jahren.
Emmanuel Bourdier: Haselnusstage
Ein Junge besucht seinen Vater. Eine Stunde Zeit dürfen sie miteinander verbringen, und auch wenn er sich freut, seinen Papa wiederzusehen, sind seine Gefühle beim Treffen sehr ambivalent. Er freut sich, dem Vater ähnlich zu sein, bewundert seine starken Muskeln und mag es, dass er manchmal so wunderbar nach Haselnüssen und Freiheit riecht. Doch es gibt auch Seiten des Vaters, die ängstigen, es gibt sogar Momente, in denen er ihn hasst. Das passiert immer dann, wenn seine bewundernswert starke Mama mal wieder ganz traurige Augen hat. Doch am schlimmsten ist, wenn die kostbare Zeit des Miteinanders vorbei ist und Papa beim Abschied weint. Erst auf den letzten Seiten des Buches offenbart sich: die Begegnung findet in der JVA statt. Bourdier gelingt es im Zusammenspiel von bildhaftem Text und starken, mit Emotionen aufgeladenen Illustrationen, die Situation der Kinder von Gefängnisinsassen in den Blick zu nehmen, die ohne eigenes Zutun in eine kaum zu bewältigende Situation geworfen werden. Mit ihren Sehnsüchten und widerstreitenden Emotionen bleiben sie oft genug allein. Doch auch unter schwierigsten Bedingungen bringen Liebe und Zugehörigkeitsgefühl Menschen einander nahe und lassen Raum für Hoffnung. Und wenn es auch nur die Vorfreude auf die nächste gemeinsame Stunde ist.
>>>Kröte des Monats Februar 2018
Aus dem Franz. v. Maren Illinger.
Ill. v.Zaü.
minedition 2017.
Ab 5 Jahren.
Ari Folmann, David Polonsky: Das Tagebuch der Anne Frank
Das Tagebuch der Jüdin Anne Frank, die die Verfolgung durch die Nazis gemeinsam mit anderen zwei Jahre lang im Versteck eines Amsterdamer Hinterhauses überlebte, schließlich doch entdeckt wurde und im Frühjahr 1945 in Bergen-Belsen starb, gehört bis heute zu den wichtigsten Dokumenten von Holocaust-Opfern. Der berühmte Text ist nicht nur ein beeindruckend klarsichtiges Zeitdokument, sondern gleichzeitig auch das authentische Portrait einer starken, widersprüchlichen und zu erstaunlicher Selbstreflektion fähigen jungen Frau, die unter bedrückenden Umständen schnell erwachsen werden musste. Die überzeugend gelungene Adaption des Originals als Graphic Diary erweitert den manchmal wörtlich zitierten, oft aber auch dialogisch bearbeiteten und sehr einfühlsam gekürzten und verdichteten Text um eine äußerst wirksame bildliche Ebene. Sie eröffnet jungen Leser*innen einen anschaulichen und sehr emotionalen Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt Anne Franks und einen authentischen Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus. Die mal fast dokumentarischen, mal emotionsgeladenen Illustrationen spiegeln den Text und ergänzen ihn zu einem unverbraucht wirkenden und sehr respektvollen Portrait einer wichtigen Persönlichkeit, die als Zeitzeugin nicht vergessen werden darf.
Religion im Kinderbuch - Buchtipp im Jänner 2018
Aus dem Amerik. v. Mirjam Pressler, Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
S. Fischer 2017.
Ab 12 Jahren.
Zana Fraillon: Wenn nachts der Ozean erzählt
Der 9-jährige Subhi wurde in einem australischen Auffanglager geboren, in dem viele Flüchtlinge dauerhaft und ohne jede Perspektive streng bewacht und von der Öffentlichkeit abgeschirmt interniert sind. Die Lebensbedingungen sind katastrophal. Hitze, Durst, schlechtes Essen, der Mangel an Hygiene, die Willkür vieler Bewacher und das erzwungene Nichtstun machen den Menschen zu schaffen. Von der Welt außerhalb des Zaunes und vom Schicksal seiner Familie, die als Rohingya aus Myanmar vertrieben wurde, weiß Subhi nur aus den Geschichten von Mutter und Schwester, die dem fantasiebegabten Jungen genauso Trost bringen wie die Träume von einem nächtlichen Ozean, der ihm vom unbekannten Vater erzählt. Die tiefe Freundschaft mit dem mutigen Eli und die heimlichen Treffen mit der einsamen Jenny, die auf der anderen Seite des Zaunes lebt und seine Liebe zu den Geschichten teilt, machen den Jungen stark genug, um im entscheidenden Augenblick das Richtige zu tun. Zanna Fraillon erzählt beklemmend genau von der bedrückenden Atmosphäre eines Ortes, an dem Menschen in Not jede Menschlichkeit verweigert wird. Doch überall da, wo sich die Fähigkeit zu Freundschaft und Nächstenliebe gegen das gleichgültige Wegschauen behauptet, bleibt die Hoffnung auf Veränderung.
Aus dem Franz. v. Claudia Max.
cbt Kinder- und Jugendbuchverlag.
Ab 13 Jahren.
Hubert Gaisbauer, Birgitta Heiskel: Franz von Assisi
In schlichten und sehr eindringlichen Sätzen erzählt Hubert Gaisbauer von den zentralen Stationen im Leben des Franz von Assisi, der nach schrecklichen Kriegserfahrungen den Traum vom Rittersein aufgibt und sein Leben in den Dienst Gottes stellen will. Obwohl ihm alle Möglichkeiten für eine erfolgreiche Karriere offenstehen, entscheidet er sich nach der Begegnung mit einem Aussätzigen gegen alle väterlichen Widerstände für ein Leben in Armut. Seine Begeisterung, die konsequente Hinwendung zu den gesellschaftlich Benachteiligten und die radikale Entscheidung zur Nachfolge Jesu steckt andere an und führt zur Gründung einer neuen Brüdergemeinschaft und des franziskanischen Frauenordens. Die Schlüsselerfahrungen des charismatischen Mannes, der ein ganz besonderes Verhältnis zur Schöpfung und zur Geschwisterlichkeit von Mensch und Tier entwickelt, werden vor allem in den intensiven und symbolstarken Bildern lebendig, die gängige Sehgewohnheiten aufbrechen und immer wieder deutliche Gegenwartsbezüge enthalten. So wird jedem Betrachter dieser kindgerecht gestalteten Biografie auf sehr anschauliche Weise bewusstgemacht, warum ein Mann des 12. Jahrhunderts nicht nur dem Papst, sondern allen Menschen des 21. Jahrhunderts zum Vorbild werden kann.
Ill. v. Birgitta Heiskel.
Tyrolia 2017.
Ab 6 Jahren.
Stefanie Höfler: Tanz der Tiefseequalle
Als die hübsche Sera auf der Klassenfahrt vom coolen und beliebten Marco sexuell belästigt wird, ist es der von allen wegen seiner Körperfülle gehänselte Niko, der sie vor Schlimmerem bewahrt. Aus dieser gemeinsam erlebten Ausnahmesituation entwickelt sich eine unerwartete und ganz langsam intensiver werdende Freundschaft, die von den Mitschülern nicht unbemerkt bleibt und nun beide heftigen Mobbingattacken aussetzt. Je näher sich Sera und Niko kommen, desto deutlicher erkennen sie den individuellen und in seinen Facetten überaus vielschichtigen Menschen hinter dem oberflächlichen Bild, das sie sich allein aufgrund des Aussehens vom anderen gemacht haben. Im sprachlich sehr deutlich differenzierenden Wechsel zwischen Seras eher wortkarg formulierter Perspektive und Nikos eloquenter, selbstironischer und überlegter Betrachtungsweise gibt Stefanie Höfler beiden unverwechselbar Stimme. Humorvoll und mit viel Gespür für pointierte Wortschöpfungen erzählt sie nah am Erfahrungshorizont pubertierender Jugendlicher von Gruppendruck und Ausgrenzung und von all den Unsicherheiten und Selbstzweifeln, die das Erwachsenwerden zu einer Herausforderung machen. Die glaubwürdige und sehr differenzierte Geschichte fordert dazu heraus, eigene Maßstäbe im Umgang mit anderen zu überdenken.
Beltz und Gelberg 2017.
Ab 12 Jahren.
Gabi Kreslehner, Verena Ballhaus: Duhuu? Hast Du mich lieb?
Große und kleine Menschen brauchen Liebe und Geborgenheit wie die Luft zum Atmen, damit sie sich frei entfalten können. Wer als Kind darin bestärkt wird, dass es immer jemanden gibt, der bedingungslos ja zu ihm sagt, gewinnt das notwendige Grundvertrauen, dass durch ein ganzes Leben trägt. Dass Kinder sich immer wieder vergewissern wollen, wie umfassend und unerschütterlich diese Liebe tatsächlich ist, zeigt dieses poesievolle Bilderbuch, das alle nur denkbaren Facetten der Frage „Hast du mich lieb?“ in den Blick nimmt. Die leichtfüßige, ganz bildhafte Sprache und die feinsinnigen und sehr zarten Illustrationen voller assoziativer Zwischentöne erzählen von all den Gefühlsturbulenzen und Unsicherheiten des Kinderalltags, die mit dem sicheren Rückhalt eines „Du“ zu bewältigen sind: übergroße Freude und heftiger Zorn, Glück und Trauer, Zufriedenheit und Ratlosigkeit, Abenteuerlust und Aufbruchsstimmung, Erfolg und Scheitern. Das unumstößliche Ja der Eltern zum Kind kann gleichsam als Gotteshinwendung zum Menschen gesehen werden. Auch in stürmischen Zeiten besteht die tröstliche Gewissheit, bedingungslos angenommen zu sein. Ein im Dialog zwischen „Ich“ und „Du“ wirkmächtiges Buch über die existentielle Bedeutung der Liebe.
Ill. v. Verena Ballhaus.
Tyrolia 2017.
Ab 4 Jahren.
Mette Eike Neerlin: Pferd Pferd Tiger Tiger
Die 13-jährige Honey tut alles, um möglichst nirgendwo aufzufallen. Während die Menschen um sie herum laut ihre Wünsche und Ansichten formulieren, bleibt sie lieber im Hintergrund und stellt eigene Interessen aus lauter Solidarität mit ihrer überaus fordernden Familie hintan. Frei nach dem im Sprach-Kurs gelernten chinesischen Sprichwort „Pferd, Pferd, Tiger, Tiger“, nach dem alles, was nicht wirklich gut ist, durchaus auch noch viel schlimmer sein könnte, versucht sie, aus den gegebenen Umständen das Beste zu machen und stolpert dabei von einer absurden Situation in die nächste. Erst die Begegnung mit dem todkranken Marcel in einem Hospiz öffnet ihr die Augen für bisher verpasstes Lebensglück. Während sie alles versucht, um die letzten Wünsche des einsamen alten Mannes zu erfüllen, ermutigt er sie dazu, neben der Hinwendung zu anderen endlich auch einmal an sich zu denken, eigene Wünsche und Lebensziele zu formulieren, Selbstbestimmung zu lernen und das Glück zuzulassen. Mette Neerlins pointiert und mit viel Humor erzähltes Buch ist eine Geschichte der ganz leisen Töne. Die feinfühlig beobachtete Entwicklung der rundum sympathischen Heldin, die sich vor lauter Sorge um die anderen fast selbst vergessen hätte, kann den Blick der Leser*innen aufs Leben verändern.
Rezension in "Die Furche" 25/2017
Aus dem Niederl. v. Friederike Buchinger.
Dressler Verlag 2017.
Ab 12 Jahren.
Alois Prinz: Bonhoeffer – Wege zur Freiheit
„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag…“. Diese Zeile seines wohl bekanntesten Gedichts, das der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer Weihnachten 1945 wenige Monate vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten schrieb, steht beispielhaft für das in vielen inneren Kämpfen errungene Gottvertrauen dieses Mannes, der seine Liebe zum Leben nie verleugnete, sich aber in den entscheidenden Momenten von seinen Überzeugungen leiten ließ. Deshalb beginnt Alois Prinz seine gut recherchierte und auf zahlreichen, sehr vielschichtigen Quellen beruhende Biografie mit der folgenreichen Entscheidung Bonhoeffers, den sicheren Zufluchtsort USA wieder zu verlassen, um angesichts der für so viele Menschen bedrohlichen Lage in Deutschland Verantwortung zu übernehmen. Bonhoeffers Überzeugung, dass christlicher Glaube und politisches Handeln nicht im Widerspruch zueinanderstehen, sein Ringen um die richtige ethische Entscheidung angesichts staatlichen Unrechts und seine Suche nach einem Gott „mitten im Leben“ sind heute so aktuell wie damals. Die fesselnde Biografie überzeugt auch deshalb, weil der Autor jede Art von Heldenlegende vermeidet und so das Bild einer gerade auch in seinen Widersprüchen nahbaren Persönlichkeit zeigt.
>>>Lektorix des Monats Oktober 2017
Gabriel 2017.
Ab 16 Jahren.
Willy Puchner: Willy Puchners fabelhaftes Meer
Das Meer ist ein faszinierender Ort. Die schier unermesslich weiten und unfassbar tiefen Wasserwelten der Ozeane sind voller wunderbarer Geheimnisse, die entdeckt werden wollen. Willi Puchner nähert sich diesem Sehnsuchtsort auf sehr persönliche und intuitive Weise und erschafft ein bildgewaltiges und originelles Panorama, das zum Schauen und Träumen einlädt. Wie ein Forscher trägt er die erstaunlichsten Informationen über den Lebensraum Ozean und seine Bewohner zusammen, sammelt literarische Zitate, zeigt kuriose Meeresfundstücke und erzählt von Schiffen, Inseln und Küstenbewohnern. Mit phantasievollen Ideen erschließt er die Farben und Stimmungen einer magischen Welt, verschickt geheime Gedanken per Flaschenpost, erfindet wundersame Meeresbewohner und lässt sie in einem Meerestheater vom bedrohten Reichtum ihres Lebensraums erzählen. Die fabelhaft vielseitigen Illustrationen imaginieren in ihrer in allen nur erdenklichen Grün- und Blautönen leuchtenden Farbenpracht die Sprache des Meeres und sind mal tosend und wild, mal andächtig und still und erzählen auf beeindruckende Weise vom unendlichen Reichtum der Ozeane und dem Wunder der Schöpfung.
biblio-Buchtipp im Monat Dezember 2017
G&G 2017.
Für alle.
Margriet Ruurs, Nizar Ali Badr: Ramas Flucht
Das syrische Mädchen Rama erinnert sich an die sorglosen und sonnenwarmen Tage vor dem Krieg wie an einen sehr lange zurückliegenden Traum. Als Zerstörung und Tod näher rücken und die Lage in ihrer Heimat immer bedrohlicher wird, bleibt der Familie schließlich nur noch die Flucht. Es wird ein weiter, beschwerlicher Weg, den nicht alle Flüchtenden überstehen, aber die freundliche Aufnahme im Gastland bringt die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Mit ungewöhnlichen Mitteln erzählt das Bilderbuch aus kindlicher Perspektive von der existentiellen Not der vielen Menschen, die ihre Heimat aufgeben müssen und einer unsicheren Zukunft entgegengehen. Der syrische Künstler Ali Nizar Badr gestaltet jede einzelne Szene mit eigenhändig auf dem heiligen Berg Zaphon gesammelten und zu eindrucksvollen Szenerien gelegten Steinen, die er anschließend fotografiert und auf diese Weise buchstäblich zum Reden bringt. Die Zusammenarbeit zwischen der kanadischen Autorin Margriet Ruurs und Ali Nizar Badr überwindet Grenzen und wird so zum Symbol der Hoffnung. Neben dem zweisprachigen Text in Deutsch und Arabisch ist es vor allem die universelle Bildsprache der Illustrationen, die die Betrachter*innen durch ihre emotionale Wucht nachhaltig berührt.
Lektorix des Monats Februar 2017
Aus dem Engl. v. Ulli und Herber Günther. Arabischer Text v. Falah Raheem.
Gerstenberg Verlag 2017
Ab 6 Jahren
Andreas Steinhöfel: Rico, Oscar und das Vomhimmelhoch
Mann, Mann, Mann: Ein Schneesturm über Berlin ist verantwortlich für das ungewöhnlichste Weihnachten, das in der Dieffe 93 jemals gefeiert wurde. Mit wachen Augen beobachtet der „tiefbegabte“ Rico das eigenwillige Treiben der bunten Hausgemeinschaft und kommentiert das unübersichtliche Geschehen mit seinem erstaunlichen Gespür für zwischenmenschliche Befindlichkeiten. Es sind nicht nur die chaotischen Festvorbereitungen mancher Bewohner oder die merkwürdigen Heimlichkeiten seines offensichtlich in Schwierigkeiten steckenden Freundes Oskar, die Ricos großherzigen Einsatz für einen versöhnlichen Ausgang des Tages erschweren. Da sind die Wiederbegegnung mit den Sommerfreunden, die Rico aus Loyalität zu Oskar aufgegeben hatte, der neue Mann der Mutter, der den liebgewonnenen Alltag durcheinanderbringt und das Gefühlschaos angesichts der anstehenden Geburt seiner Halbschwester. Ricos Beharrlichkeit und Oskars unvoreingenommene Hilfsbereitschaft bringen schließlich alle zusammen und ermöglichen Neuanfänge. So werden mitten im Schneesturm viele Weihnachtswunder wahr. Abermals überzeugt Andreas Steinhöfel mit seiner Kunst, lebensechte Charaktere, vielschichtige Beziehungen und klugen Wortwitz zu einem facettenreichen und nachhaltigen Lesevergnügen zu machen.
>>>Kröte des Monats Dezember 2017
Ill. v. Peter Schössow.
Carlsen 2017.
Ab 10 Jahren.
Angie Thomas: The Hate U Give
Es gibt Tage, da hält die 16-jährige Starr die innere Zerrissenheit kaum aus, die ihr komplizierter Alltag mit sich bringt. Die schwarze junge Frau lebt in einem von Drogenkonsum und Gewalt geprägten amerikanischen Großstadt-Ghetto. Um ihr eine gute Zukunft zu ermöglichen, schicken die Eltern sie auf eine mehrheitlich „weiße“ Schule in einem besseren Stadtviertel, wo sie sich häufig wie eine Verräterin an der eigenen Herkunft fühlt. Doch als es wirklich darauf ankommt, geben ihr die von ihrer Familie im Alltag gelebten religiösen und ethischen Grundüberzeugungen die nötige Kraft, das Richtige zu tun. Sie muss mitansehen, wie ein Freund bei einer Polizeikontrolle grundlos erschossen wird. Als der Täter straffrei bleibt, bezeugt sie mutig den wahren Tathergang und fordert eine öffentliche Aufarbeitung der Tat. Authentisch und ohne zu vereinfachen blickt Angie Thomas auf die gesellschaftlichen Bedingungen in den USA, die von unterschwelligem und offenem Rassismus geprägt sind und gibt den vielen Opfern Stimme und Gesicht. Gegen die scheinbare Ausweglosigkeit bestehender Verhältnisse setzt sie die Überzeugung, dass Veränderungen möglich sind, wenn Menschen gegen Hass und Gewalt aufstehen und Werten wie Freundschaft, Mut, Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit Geltung verschaffen.
>>>Lektorix des Monats Dezember 2017
Aus dem Amerik. v. Henriette Zeltner.
cbt Kinder- und Jugendbuchverlag 2017.
Ab 14 Jahren.
Bette Westera: Omas Rumpelkammer
Die 8-jährige Sofia und ihre Großmutter sind ein Herz und eine Seele. Sofia liebt es, ganz allein bei Oma zu Besuch zu sein, gemeinsam in der alten Rumpelkammer nach geheimen Schätzen zu kramen und den vielen Geschichten und Erinnerungen an früher zu lauschen. Omas zunehmende Vergesslichkeit nimmt Sofia im Gegensatz zu ihren besorgten Eltern gelassen hin. Für die Erinnerungslücken ihrer Oma hat sie immer phantasievolle Erklärungen parat, mit denen sie sie vor den Erwachsenen in Schutz nimmt. Sofia will den Umzug der Großmutter in ein Altenheim auch dann nicht akzeptieren, als die alte Dame nach einem verhängnisvollen Sturz endgültig nicht mehr allein zurechtkommt. Verstört vom plötzlichen Ende des vertrauten Miteinanders verweigert sie lange jeden Besuch in Omas neuem Heim. Erst als die beiden heimlich ein paar Erinnerungen in einem kleinen „Rumpelschrank“ verstecken, entdeckt das Mädchen die alte Vertrautheit wieder und kann die neue Situation annehmen. Einfühlsam und humorvoll erzählt Bette Westera aus kindlicher Perspektive von den emotionalen Belastungen, die eine Demenzerkrankung vertrauter Menschen mit sich bringt. Die tröstliche Geschichte zeigt, dass man Veränderungen akzeptieren kann, ohne verständliche Ängste verdrängen zu müssen.
Ill. v. Joanne Lew-Vriethoff.
Aus dem Niederl. v. Rolf Erdorf.
Susanne Rieder Verlag 2017.
Ab 8 Jahren.