Fernkurs-Tagung 2015 in Würzburg
Wilde Hühner - Zahme Nerds
Neue Rollenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur
Teheran -
Wien -
Köln -
Würzburg:
Eine internationale Tagung.
Im Bild Teile des Teams des Borromäusverein e.V., der STUBE und weitgereiste Teilnehmerinnen
Maria Koschny
Susan Kreller
Barbaren,
Backfische und Pippilottas, aber auch Helden, Prinzessinnen, Abenteurer sowie Halbgöttinnen sind bekannte Figuren der Kinder- und Jugendliteratur. Sie durften auch in den Vorträgen der Fernkurstagung in Würzburg nicht fehlen.
Ob sie bereits von neueren Rollenbildern – etwa wilden Hühnern und zahmen Nerds – abgelöst wurden, war eine viel diskutierte Frage, die das Tagungsthema „Gender“ aufwarf. Eines war am Ende der Tagung klar. Vor einem Phänomen ist zur Zeit fast niemand sicher: die „Pinkifizierung“.
Von 18. bis 20. September 2015 fand die Fernkurs-Tagung der STUBE in Deutschland statt.
Dank der Kooperation mit dem Borromäusverein e.V. konnten sich rund 40 Teilnehmer*innen im Exerzitienhaus Himmelspforten in Würzburg mit Genderfragen in Theorie und Praxis beschäftigen.
Referate, Lesungen, Werkstattgespräche und Workshops loteten die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Kinder- und Jugendmedien gendersensibel aus.
Einen Grundstein für die thematische Auseinandersetzung, die sich über drei Tage mit dem Thema Geschlechterrollen widmen sollte, legte Heidi Lexe mit ihrem Einführungsvortrag: „Von Conan zu Katniss. Geschlechterrollen in Literatur und Medien“. Ausgehend von Conan dem Barbaren (in der Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger) und Katniss Everdeen (Hunger Games) beleuchtete sie die Unterschiede zwischen einer männlichen und einer weiblichen „barbarischen“ Figur. Das genderaffine Fazit lautete: Die Repräsentation des Männlichen ist dominierend. Gefolgt von allgemeinen theoretischen Grundbegriffen der Genderforschung kam Heidi Lexe zum Schluss, dass es in Neuinszenierungen des Märchens vermehrt zu Brüchen der traditionellen Rollenbilder kommt. So durfte Rapunzel zuletzt als rockiger Ballettliebhaber und als bratpfannenschwingende Disneyheldin auftreten.
>>> Literaturliste
Bettina Kraemer und Maria Koschny im Gespräch
Dem Abendprogrammpunkt am Freitag ging eine Frage der Tagungsleiterin Bettina Kraemer voraus: Was verbindet die Schauspielerinnen Jennifer Lawrence, Micha Barton, Lindsay Lohan und Coté de Pablo? Die Antwort saß schließlich direkt neben ihr: Maria Koschny. Die deutsche Synchron- und Hörbuchsprecherin, die in diesem Jahr mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet wurde, gab in einem Werkstattgespräch aufschlussreiche Einblicke in ihr Metier. So erfuhr das Publikum, dass man im Tonstudio für Außenszenen unter ein Zelt muss, wie es ist, wenn man bereits im Kindesalter erste Erfahrungen im Synchronsprechen macht und was es mit dem Begriff „Lippenablösgeräusch“ auf sich hat. Neben den Schilderungen aus der Synchronsprechszene und Auskünfte darüber, wie man ein Hörbuch einspricht, las Maria Koschny u.a. jene Originalszene aus dem Hörbuch „Die Tribute von Panem“, die zuvor Heidi Lexe anhand eines Videoclips analysiert hatte.
>>> Werkstattgespräch als PDF
Einen Blick hinter die Kulissen erlaubte auch das zweite Werkstattgespräch am Samstagabend. Susan Kreller sprach mit Heidi Lexe über ihren Jugendroman „Schneeriese“, der für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 nominiert ist. Die Autorin gab darüber Auskunft, wie die geschlechtersensible Charakterisierung von Figuren funktioniert, wie ihr Schreibprozess abläuft oder wie sie persönlich auf Rezensionen zu ihren Büchern reagiert. Susan Kreller setzte sich mich mit allen Fragestellungen äußerst reflektiert auseinander. Besonders erkenntnisreich waren daher mehrere kurze Textanalysen, die durch die Fragestellungen Heidi Lexes entstanden: Diese reichten von der Bedeutung der Hollywoodschaukel als fiktionalen Ort des Geschichtenerzählens, über die Rolle des Andersen-Märchens „Die Schneekönigin“ bis hin zum Motiv der Kälte im Roman „Schneeriese“.
Die Referierenden, jeweils von links nach rechts: Kerstin Böhm, Agnes Blümer,
Peter Rinnerthaler, Jana Sommeregger
Zuvor eröffneten Vorträge und Workshops die Möglichkeit zur spezifischen Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur. Das Thema Gender wurde von Kerstin Böhm (Universität Hildesheim) aus der Perspektive der Literaturdidaktik aufgegriffen. Dass die Vermittlung geschlechtersensibel und nicht geschlechterspezifisch sein müsse, war ein zentraler Punkt ihrer Ausführungen. Zudem verschränkte Kerstin Böhm genderwissenschaftliche Ansätze mit den geläufigen Maximen der Lesedidaktik und stellte scheinbar allgemeingültige Annahmen über das Leseverhalten junger männlicher und weiblicher Leser*innen in Frage: „Jungs lesen weniger, JA ABER ...“
Die historische Ebene der weiblichen Leseerfolgsgeschichte griff Agnes Blümer (Universität Frankfurt) auf. In einem Spaziergang durch die Geschichte der Mädchenliteratur schaffte sie es den Bogen von der frühen Backfischliteratur bis hin zur zeitgenössischen Future Fiction zu spannen. So wurde einerseits die Entwicklung der weiblichen Autonomie nachvollziehbar und andererseits sichtbar, wie sich das in literarischen Formen abzeichnet: vom trotzigen Mädchen im und außerhalb des Familienkreises zur urbanen Heldin in einer Subgattung, die Agens Blümer mit dem Begriff „abstinent-porn“ bezeichnet.
Impressionen aus den Workshops. Links Ulrike Erb-May, rechts Cnut Fritz
Anschließend vertiefte Agnes Blümer in einem von drei Workshops das Thema Mädchenliteratur und legte den Fokus auf die Heldinnen der Mädchenliteratur. Cnut Fritz (Projekt: Ich bin ein Leseheld) konzentrierte sich im zweiten Workshop auf die Literaturvermittlung für Jungen und Ulrike Erb-May ging mit den Teilnehmer*innen des dritten Workshops einer These zur Figurendarstellung auf den Grund: „Der Drache ist ein Mädchen?!“
Zwei weitere Vorträge widmeten sich am Sonntag zwei weiteren spezifischen Bereichen der gendersensiblen Kinder- und Jungendliteraturforschung. Peter Rinnerthaler wagte den Versuch zeitgenössische Bilderbücher gendertheoretisch zu analysieren ohne dabei die Kleidung, die Namen der Figuren oder die Farbgestaltung der Bilderbücher in Betracht zu ziehen. Im seinem Vortrag standen alleine die Handlungen der Figuren im Raum im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Nach seinem teils rein mathematischen Blick auf das Bilderbuch mit Erscheinungsjahren nach 2010 konnte er Entwarnung geben: Traditionelle Geschlechterrollen waren in den ausgewählten Bilderbüchern nicht mehr zu erkennen.
Deutlich erkennbar waren Geschlechtertrends am Jugendbuchmarkt, denen sich Jana Sommeregger (Teach for Austria) widmete. Sie veranschaulichte, wie sich eine Zunahme geschlechterspezifischer Adressierungen am Buchmarkt abzeichnet: mehr Freundinnengeschichten für Mädchen und mehr Abenteuererzählungen für Jungen. Jana Sommeregger verwies jedoch nicht nur auf die inhaltlichen Konzentrationen, die den Geschlechterrollen zugeschrieben werden, sondern verdeutlichte außerdem, wie sich Trends bereits auf den Buchcovern abzeichnen: Farbgestaltung, Handlungsmöglichkeit sowie Gegenstände werden auf Mädchen und Jungs abgestimmt und liefern so die Grundlage für die um sich greifende „Pinkifizierung“.
Wilde Hühner, zahme Nerds? Oder doch ganz neue Rollenbilder?
Gruppenfoto im Tagungshaus Himmelpforten