Ausgewählte Kinderbuch-Klassiker
Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel
„Da Squire Trelawney, Dr. Livesey und die übrigen Herren mich gebeten haben, alle Einzelheiten über die Schatzinsel von Anfang bis zum Ende niederzuschreiben…“ In dicken Lettern präsentiert dieser großformatige, schwere Band den unge-kürzten Text der „Schatzinsel“ in Richard Mummendeys Über-setzung von 1967. Die durch die leicht verständliche, aber doch alt anmutende Sprache evozierte Atmosphäre wird durch die holzschnittartigen Illustrationen noch verstärkt. Überwiegend düster und teilweise seitenfüllend stellen sie eine Verbindung zum viktorianischen Zeitalter her, als eine zum Spaß gezeich-nete Karte den Schriftsteller Stevenson zu einem seiner berühmtesten Werke inspirierte.
Ill. Von John Lawrence.
Aus dem Engl. v. Richard Mummendey l.
Fischer Sauerländer 2010.
270 S.
John Boyne: Der Schiffsjunge
Die Ich-Perspektive eines jungen Seemannes wählte 2011 auch John Boyne für einen historischen Roman, in dem die vor allem durch filmische Umsetzungen bekannte Geschichte der Meuterei auf der Bounty aus der Sicht einer Nebenfigur erzählt wird. John Jakob Turnstile, Schiffsjunge von Kapitän Bligh, erzählt zwischen naiver Beobachtung und vorlautem Charme von den Ereignis-sen auf dem streng regierten Schiff und der paradiesischen Insel Otaheite. John Boyne beweist dabei nicht nur historische Exaktheit, sondern belebt das Abenteuergenre neu. Verwegen vorgelesen von Florian Lukas findet sich dieser Roman auch auf der Liste empfehlenswerter Hörbücher.
Aus dem Engl. v. Andreas Heckmann.
Fischer KJB 2013.
640 S.
Daniel Defoe: Robinson Crusoe
Mit einem für heutige Leser_innen sehr hilfreichen Nachwort (Stichwort: political correctness) präsentiert Käthe Recheis den Begründer der Inselliteratur und Schöpfer des ersten englischen Romans überhaupt. In der Übersetzung schwingt neben den exotischen, teils befremdlichen Aspekten der Insel (und der Vorstellung davon im England des frühen 8. Jahrhunderts) auch der poetische, eindringliche Stil der österreichischen Autorin mit, die im Mai 2015 verstorben ist.
Im Nachwort setzt sie den Roman in Kontext der damaligen Situation, mit dem Verständnis der Europäer_innen für alles jenseits des eigenen Kontinents. Für die Verhältnisse seiner Zeit war Crusoes Sicht auf die „Wilden“ eher fortschrittlich – und traf dennoch sichtlich den Geschmack des Publikums. Bis heute sind Reisen, Gestrandetsein und Erobern beliebte Motive der Kunst.
Bearbeitet und aus dem Engl. übersetzt v. Käthe Recheis.
Ill. v. Bernhard Oberdieck.
Dressler 1990.
272 S.
Eine äußerst amüsante, satirische Version davon hat Terry Pratchett 2008 veröffentlicht:
Terry Pratchett: Eine Insel
Nobody is an island! Eine Flutwelle zerstört das pazifisch anmutende Inselreich zur Kolonialzeit und unterbricht den Initiationsritus des jungen Mau, der so nicht nur kein Mann, sondern einzig Überlebender seiner Insel geworden ist. Fortan wird der Junge von den Göttern lautstark genötigt, seine Nation wieder zu errichten. Zu Hilfe kommen ihm Gestrandete, allen voran das Hosenmenschenmädchen Daphne, das als überzivilisierter, europäischer Adelsspross zum persiflagehaften Gegenentwurf von Maus Kultur wird. Die beiden lotsen die Insulaner der neuen Zivilisation durch die Konfrontation mit Sprachbarrieren und Kannibalen bis die fordernde Stimme der gottgleichen Vorfahren verstummt und die gewitzte Parabel von Religion, Wissenschaft und Menschheit geglückt beschlossen ist. Am Ende ist weder Mau noch Daphne noch deren Welt wiederzuerkennen und die fordernde Stimme der Götter verstummt. Was bleibt ist Glaube, Welt und Horizont ganz neuer Art: Ein Mensch allein ist nichts. Zwei Menschen sind eine Nation.
Aus dem Amerik. v. Peder Brehnkmann.
Goldmann Verlag 2010.
448 S.
Robin Hood
Der edle Ritter, der durch Unrecht zum Räuber wird, die Reichen bestiehlt und die Armen beschenkt, ist eine der beliebtesten Gestalten der Abenteuerliteratur. Zahlreiche Adaptionen in Film (episch mit Kevin Costner, parodistisch in „Helden in Strumpfhosen“) und Fernsehen (zuletzt die BBC-Serie von 2006 bis 2009) zeugen von der Popularität des Helden. In der Literatur hat sich mittlerweile auch der weibliche heldenhafte Räuber etabliert: Von Astrid Lindgrens „Ronja“, die die Räubertochter im Namen trägt und stark im heimatlichen Wald verwurzelt ist, über Cornelia Funkes „Wespe“, Kurt Helds „Rote Zora“, die bereits eine eigene Bande zu versorgen hat, bis hin zu Suzanne Collins „Katniss Everdeen“. Letztere wird nicht nur zur Diebin, sondern wie Robin Hood zum Symbol des Kampfes gegen Unterdrückung – und legt, wie der grüne Mann, auch mal selbst den Pfeil an.
Kenneth Graham: Der Wind in den Weiden
1908 veröffentliche Kenneth Graham sein Kinderbuch über die Abenteuer des scheuen Maulwurfes und seiner Freunde und schuf damit einen Klassiker, der sich vor allem im englisch-sprachigen Raum bis heute großer Beliebtheit erfreut. Knesebeck ließ diesen Klassiker jetzt durch Robert Ingpen neu gestalten. Herausgekommen ist eine hochwertige Ausgabe im meergrünen Leineneinband und zahlreichen detailverliebten Illustrationen des Hans-Christian-Andersen-Preisträgers 1986. Der 70-Jährige hat für den Verlag bereits viele Bücher illustriert, die jetzt neu aufgelegt werden: „Peter Pan“, „Alice hinter den Spiegeln“, „Das Dschungelbuch“ und mehrere andere Klassiker laden in edler Bindung und großformatig zum Wiederentdecken der Texte und Staunen über die Bilder ein.
Ill. v. Robert Ingpen.
Aus dem Engl. v. Gundula Müller-Wallraf.
Knesebeck 2012.
224 S.
Lewis Carroll: Alice im Wunderland
Gerade, als Willi auf „Alice im Wunderland“ zu sprechen kommt, stürzt er in einen Kaninchenbau – vorbei an einer Bibliotheks-landschaft. Browne verweist hier auf sein eigenes Werk: 2005 illustrierte er Lewis Carrolls Kunstmärchen und ließ die Protagonistin dabei durch endlose Regale voller Bücher und Teegeschirr stürzen. Brownes Alice unterscheidet sich äußerlich stark von der durch Disney berühmt gewordenen Figur: Mit wehenden braunen Haaren, einem grünen Kleid und passenden Strumpfhosen (die das Mädchen ein wenig an Peter Pan erinnern lassen…) sieht sie neugierig dem Boden entgegen. Neben den bekannten Gestalten wird sie dort auch immer wieder einem Affen begegnen – Anthony Brownes tierischem Helden, der sie zehn Jahre später wieder besuchen wird.
Ill. v. Anthony Browne.
Aus dem Engl. v. Christian Enzensberger.
Lappan 2005.
136 S.
Lyman Frank Baum: Der Zauberer von Oz
1996 brachte Lisbeth Zwerger für den NordSüd-Verlag ihre ganz eigene Vorstellung von Lyman Frank Baums Welt großformatig zu Papier. Mit rotem Leineneinband und weniger sperrig wurde der Klassiker jetzt neu aufgelegt. Die Schrift ist kleiner und zarter geworden und lenkt weniger von den Illustrationen ab. Zwerger arbeitet mit Aquarellfarben in überwiegend gedämpften Tönen, nur ein helles Rot hebt sich immer wieder von den groß-flächigen Illustrationen ab.
Der Weg zur bösen Hexe des Westens ist eine Reise jedes Protagonisten zu sich selbst, und die Faszination dieser Reise zieht Leser_innen und Künstler_innen gleichermaßen in ihren Bann – seit über hundert Jahren. Der bösen Hexe wurde neben dem Roman von Gregory Maguire („Wicked – die Hexen von Oz“) auch ein Musical gewidmet.
Ill. v. Lisbeth Zwerger.
Aus dem Engl. v. Alfred Könner.
NordSüd 2015.
144 S.
Carlo Collodi: Pinocchio
„Es war einmal… ‚Ein König!‘, werdet ihr bestimmt gleich rufen. Nein, Kinder ihr irrt euch. Es war einmal… ein Stück Holz.“ Die bekannte Geschichte um die sprechende Marionette hat Quentin Gréban ausdrucksstark mit Aquarellen illustriert. Seitenfüllende Bilder wechseln sich mit Darstellungen einzelner Figuren im Weißraum ab und lockern den an manchen Stellen fast düsteren Text auf. Denn nicht nur der (vor allem durch den Disneyfilm bekannte) zweite Teil der Geschichte wird erzählt: Bevor Pinocchio im Bauch des Wales auf seinen Ziehvater Gepetto trifft und ihn rettet, zeigt er sich als sehr wider-spenstiger Charakter. Erst als er gelernt hat, Verantwortung
zu übernehmen und sich um andere zu kümmern, wird sein größter Wunsch erfüllt: Die Holzpuppe wird ein richtiger Junge.
Ill. v. Quentin Gréban.
Aus dem Franz. v. Sabine Ludwig.
NordSüd 2010.
88 S.
Hans Christian Andersen:
Hans Christian Andersen Märchen
2005 jährte sich der Geburtstag des dänischen Märchen-erzählers Hans Christian Andersen zum 200. Mal. Unter den aus diesem Anlass zahlreich erscheinenden Gesamtausgaben war eine neue Perle im illustratorischen Kollier des Nikolaus Heidelbach zu finden, die auch zehn Jahre später nichts von ihrem Glanz verloren hat: Ausgehend von einer umfangreichen Auswahl bekannter und selten zu lesender Texte wählt Nikolaus Heidelbach in seinen Bildern niemals die erwartbaren Szenerien, sondern eröffnet mit historischem Feinsinn und interpreta-torischer Genauigkeit die Möglichkeit, fernab von einer Triviali-sierung der Märchenrezeption einen neuen Blick auf ein Oeuvre zu werfen, das von Volks- und Kunst- bis hin zu köstlich humoristischen Märchen reicht. In „Das Feuerzeug“ sind es vor allem die drei magischen Hunde, die das Bild prägen. Heidelbach hält sich dabei genau an die Beschreibungen im Text; und so sieht man vom Hund, der Augen, „so groß wie der runde Turm“ hat, nicht viel mehr als eines ebendieser Augen – mehr passt einfach nicht auf die Seite. Die schöne Prinzessin und der in sie verliebte Soldat werden kaum in Aktion gezeigt, die Hofdame der Prinzessin dagegen in vollem Lauf, den Hunden nach. Ohne den Text zu stören, lässt Heidelbach die Leser_innen dadurch eine zusätzliche Perspektive einnehmen.
Ill. v. Nikolaus Heidelbach.
Aus dem Dän. v. Albrecht Leonhardt.
Beltz 2012.
376 S.
Marissa Meyer: Wie Sterne so golden
Einmal mehr in der Science-Fiction-Serie, deren finaler vierter Teil auf Englisch bereits erschienen ist, verweist der titel-gebende Mädchenname auf das entsprechende Märchen, das der Handlungsstruktur und Figurenkonstellation dieses Bandes zu Grunde gelegt wird. Cress (mit vollem Namen Crescent Moon) ist Rapunzel - „das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen.“ Hier ist das Mädchen sogar erst zehn, als es in einen winzigen Satelliten gesteckt wird. Ihre Zeit verbringt sie damit, ihre Hacker-Fähigkeiten zu optimieren und komplizierte Zopfmuster in ihr langes Haar zu flechten. Neben den Brüdern Grimm bedient sich Marissa Meyer für diese Figur auch der Gedanken von Hans Christian Andersen. Dann nämlich, wenn die Sehnsucht der jungen Cress sich wie jene der kleinen Meerjungfrau ganz und gar auf die Menschen richtet, sie diese über ihre zahlreichen Netscreens beobachtet. Sobald Raumschiffe ins Spiel kommen, dürfen jedoch auch die Anleihen an den modernen Mythos nicht fehlen: Immer deutlicher wird die Figur des Captain Thorne an Han Solo aus „Star Wars“ angelehnt, wenn Cress ihm, Scarlett, Wolf und Cinder (die Held_innen der ersten beiden Bücher) Dienste anbietet und gleichzeitig um Hilfe bittet. Dem – auf den ersten Blick so gar nicht märchenprinzartigen – Thorne wird auch das Schicksal jenes Königsohns zugemutet, der Rapunzel aus ihrem Turm befreien will und dafür mit dem Sturz in die Dornen be-zahlt, die ihm seine Augen ausstechen. Jene Wüstenei, in der Rapunzel bis zum glücklichen Ende alleine leben muss, wird hier zur wortwörtlichen Wüste: Nach Frankreich wird nun nach Afrika gewechselt, wo Cinder auf ihrer Flucht erneut auf Dr. Erland trifft. Bis im Showdown die Hochzeit gecrasht wird, wird die illustre Rebellengruppe auf tragische Weise getrennt; Scarlet bleibt sogar – zu Wolfs Entsetzen – bis zum Ende Gefangene der Lunarier und wird dort nach zahlreichen Torturen der wunderschönen, wenn auch verunstalteten Stieftochter von Levana übergeben, die nicht bei Zwergen, sondern in einer Menagerie lebt und erahnen lässt, dass der finale vierte Band „Winter“ (Erscheinungstermin 29. 1. 2016) auf Luna spielen wird. Denn, um Kai zu zitieren: “The people of Luna don’t need a princess, they need a revolutionary.”
Aus dem Amerik. v. Astrid Becker.
Carlsen 2014.
576 S.